Molekularer Atlas enthüllt Entwicklung von Gehirnzellen

Mit einer Kombination aus leistungsstarken Sequenzierungstechniken und mathematischen Methoden haben die Forschenden der EPFL die genetischen Programme aufgespürt, die die Entwicklung jeder Zelle im Gehirn steuern. Diese molekulare Karte könnte den Forschenden helfen zu verstehen, wie sich das Gehirn entwickelt und Einblicke in eine Reihe von Erkrankungen, einschliesslich Hirntumoren und neurologischen Entwicklungsstörungen, geben.
Molekularer Atlas enthüllt die Entwicklung von Gehirnzellen © Laboratory of Neurodevelopmental Systems Biology / EPFL

Wenn sich eine befruchtete Eizelle teilt, übernehmen die anfänglich undifferenzierten Zellen spezifische Funktionen und entwickeln sich zu verschiedenen Geweben und Organen. Zu verstehen, wie Hunderte von unterschiedlichen Zelltypen entstehen, hat sich als schwierig erwiesen, vor allem, weil der Wissenschaft die Technologien fehlten, um die zelluläre Entscheidungsfindung im Verlaufe der Zeit zu erfassen.

Jüngste Fortschritte haben es den Forschenden ermöglicht, Veränderungen in der Genaktivität einzelner Zellen zu messen. Deshalb begannen mehrere Gruppen, im Detail zu untersuchen, wie spezialisierte Zelltypen in bestimmten Hirnregionen gebildet werden. Allerdings war es bisher niemandem gelungen, die Muster der Genexpression über die gesamte Hirnentwicklung hinweg zu verfolgen.

Nun haben Forschende der EPFL und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Karolinska-Institut in Schweden erstmals die genetischen Entwicklungswege embryonaler Zellen im heranreifenden Gehirn kartiert. «Dieser molekulare Atlas könnte nicht nur dazu beitragen, das gesunde und kranke Gehirn besser zu verstehen, sondern auch therapeutische Ansätze wie die Zellersatztherapie bei neurodegenerativen Erkrankungen zu verbessern», sagte der Hauptautor der Studie, Gioele La Manno, Leiter des Laboratory of Neurodevelopmental Systems Biology an der EPFL. Die Ergebnisse wurden in Nature veröffentlicht.

Um die Entscheidungsfindung in einzelnen Zellen im Laufe der Zeit zu beobachten, analysierten La Manno und seine Kolleginnen und Kollegen täglich Gehirnproben von Mausembryonen ab dem 7. Tag. Mit einer Kombination aus leistungsstarken Sequenzierungstechniken und mathematischen Methoden erhielten die Forschenden etwa 290 000 Genexpressionsprofile einzelner Zellen aus allen Hirnregionen sowie fast 800 zelluläre «Zustände», die die Entwicklungsprogramme für verschiedene Zellen, darunter Neuronen und neuronale Stützzellen, enthielten.

«Wenn das Gehirn ein Orchester wäre, wären die organisierenden radialen Gliazellen der Dirigent.»      Gioele La Manno

Wenn neuronale Progenitoren heranreifen, stellen sie ihre Proliferation ein und differenzieren sich in eine Vielzahl von verschiedenen Neuronen. Die Forschenden verfolgten die Entstehung dieser Vielfalt und beschrieben den Zeitpunkt des Auftretens von primitiven Nervenzellen, den sogenannten Neuroblasten, in verschiedenen Hirnregionen. Bei Mäusen erscheinen die ersten Neuroblasten schon früh, vor dem 9. Tag der Embryonalentwicklung. Beim Menschen entspricht dies etwa dem Beginn des ersten Schwangerschaftstrimesters. Die Forschungen zeigten, dass diese Pionierneuronen an sensorischen und motorischen Funktionen beteiligt sind. «Eines der ersten Dinge, die man tun muss, ist, die motorischen und sensorischen Funktionen aufzubauen. Werden diese nicht frühzeitig aufgebaut, wird es später schwieriger, «Autobahnen» zur Peripherie zu bilden», sagte La Manno.

Die Forschenden fanden auch bestimmte Arten von neuronalen Vorläufern, sogenannte «Organizer-Radial-Gliazellen», deren Aufgabe es ist, die Entwicklung benachbarter Zellen zu lenken, indem sie molekulare Botenstoffe produzieren, die helfen, die Position verschiedener spezialisierter Zelltypen innerhalb des Gehirns festzulegen. «Wenn das Gehirn ein Orchester wäre, wären die organisierenden radialen Gliazellen der Dirigent.», sagte La Manno. Wie das Team herausfand, produzieren diese radialen Gliazellen eine grössere Vielfalt an molekularen Botenstoffen als man bisher dachte.

Die Analyse ermöglichte es den Forschenden auch, Zellpopulationen unterschiedlicher Grösse zu identifizieren, wobei einige Populationen aus 100-mal mehr Zellen bestanden als andere. Eine der grössten Populationen scheint die der erregenden Neuronen im Vorderhirn zu sein, einem Bereich, der die meisten Regionen umfasst, die an der Kognition höherer Ordnung beteiligt sind. Eine der kleinsten identifizierten Populationen war die einer Art von neuronalen Stützzellen, den sogenannten Ependymalzellen, die die Flüssigkeit produzieren, die das Gehirn und das Rückenmark umgibt.

La Manno hofft, dass die Fülle an Informationen, die in diesem Hirnatlas enthalten sind, dazu beitragen könnte, Gene zu identifizieren, die an neurologischen Entwicklungsbedingungen beteiligt sind, und den Ursprung bösartiger Zellen bei Hirnkrebs zu bestimmen. Er ergänzte, dass der Atlas auch als Referenz dienen könnte, um Hirngewebe zu bewerten, das in einer Laborschale aus Stammzellen erzeugt wurde. Um anderen bei der Untersuchung von Zellen und Geweben von medizinischem Interesse zu helfen, haben die Forschenden den Atlas als durchsuchbare Webressource öffentlich zugänglich gemacht.

Als nächstes will La Manno herausfinden, wo im sich entwickelnden Gehirn die verschiedenen Zellpopulationen lokalisiert sind. «Der aktuelle Atlas ist ein molekulares Diagramm, das Ihnen sagt, welche Art von Zellen ähnlich und welche anders sind», erklärte La Manno. «Jetzt wollen wir herausfinden, wo diese Zellen im Gehirn sitzen.»