Montreux Jazz Festival: Partygeschehen und Sicherheit

Ein Doktorand der EPFL im Fach Urban Sociology war vier Jahre lang beim Montreux Jazz Festival angestellt. Sein Ziel? Er wollte verstehen, wie das Thema Sicherheit innerhalb und ausserhalb der Veranstaltungen des berühmten Festivals angegangen wird.
© FFJM Sebastien Moitrot

Das 16-tägige Montreux Jazz Festival (MJF) ist aufgrund seiner Lage mitten in der Stadt mit grossen Herausforderungen in Bezug auf Gästebetreuung und Sicherheit konfrontiert: Wie lassen sich in einem grösstenteils offenen und frei zugänglichen Bereich Festgeschehen und öffentliche Ordnung miteinander in Einklang bringen? Wie geht man mit den Risiken um?

Diesen Fragen wollte Lucien Delley im Rahmen seines etwas ungewöhnlichen Doktorats an der EPFL nachgehen. Bei drei Ausgaben des Festivals, von 2017 bis 2019, war er als Sicherheitskoordinator genau in diesem Bereich tätig und führte parallel dazu eine soziologische Studie zum Thema durch. «Gleichzeitig Kläger und Richter zu sein, ist schon etwas ungewöhnlich. Zuweilen war ich sogar mein eigener Forschungsgegenstand», erläutert der Forscher, der die Untersuchung im Auftrag des Laboratory of Urban Sociology (LASUR) durchführte. Er wird seine Ergebnisse am 16. Juli bei einem gratis Vortrag vorstellen, der vom Festival organisiert wird.

Konkret war der Forscher Teil der operativen Abteilung, also des Teams des MJF, das für Einrichtungen und Infrastrukturen, Verkaufsstellen, nachhaltige Entwicklung und Sicherheit zuständig ist. Im Zentrum seiner Tätigkeit standen das Crowd-Management, die Zutrittskontrolle, die Gefahrenprävention und die Verminderung von Risiken sowie das Bereitstellen von Informationen zum Publikum und zu dessen Verhalten.

In seiner Arbeit konzentrierte er sich auf zwei Orte, wo der Sicherheitsaspekt sehr unterschiedlich angegangen wird: einen geschlossenen Ort, den Strobe Klub, und einen offenen Ort, den Parc Jean Villard-Gilles. Zum einen wird dabei ein Vorgehen angewandt, was der Soziologe Domestizieren der Risiken nennt, und zum anderen das sogenannte Einbeziehen von Risiken: Hier liegt der Fokus weniger auf Verboten, sondern auf Kommunikation und Einbindung. Wie Lucien Delley in seiner Arbeit betont, wird das Festival aufgrund seines jährlichen Rhythmus selbst zu einem urbanen Labor, das Verbesserungen fördert. Doch der Reihe nach.

Der Strobe Klub - 2017. © FFJM 2017 Sebastien Moitrot

Auswahl des Strobe Klub …

Der Strobe Klub ist seit der 50. Ausgabe des MJF im Jahr 2016 ein gratis zugänglicher Ort für elektronische Musik. Er befand sich 2017 zunächst im Petit-Palais, wurde 2018 in das 2m2c verlegt, später jedoch aufgegeben. «Das Sicherheitskonzept des Festivals ist vom Ansatz anderer Städte im Bereich der elektronischen Musik beeinflusst», so Lucien Delley.

Der erste Strobe Klub wurde 1968 vom Festivalgründer Claude Nobs ins Leben gerufen. Nachdem das MJF im Jahr 1993 das Casino de Montreux verlassen hatte, organisierte dieses mit Festival Dance Sensation eine Konkurrenzveranstaltung, die aufgrund des sehr hohen Drogenkonsums schnell verboten werden musste. Dieses Verbot entspricht dabei dem, was der Soziologe als Phase der «Zuspitzung» bezeichnet.

Mit der Zeit wurde das Phänomen der elektronischen Musik, ähnlich wie andere Gegenkulturen, in vielen Städten jedoch «domestiziert». Dies war auch beim MJF der Fall, erläutert Lucien Delley: «Nach dem Verbot wird nun der Ansatz einer Auswahl verfolgt. Der Eintritt ist frei, aber es werden klare Grenzen gesetzt, etwa durch Absperrungen, Erkennungsdienste und Sicherheitspersonal. Dieses Konzept muss gleichzeitig für Empfang und Kontrolle sorgen und dabei der Ambiguität der Party, zwischen Trunkenheit und Risiko, gerecht werden.» Durch die Analyse des Besucheraufkommens des Strobe Klub konnte ihm zufolge ein subtiler Mechanismus zur Auswahl von Personen und Gegenständen gezeigt werden. Damit wurden nicht nur Risiken reduziert, sondern auch eine soziale Ordnung reproduziert, die mit dem Grundsatz der Gastfreundschaft als wichtigem Wert des MJF vereinbar ist.

Der Strobe Klub - 2018. © FFJM 2018 Sebastien Moitrot

Einbeziehung des Parc Jean Villard-Gilles

Der Parc Jean Villard-Gilles ist zwar kein offizieller Teil des MJF, jedoch treffen sich dort während des Festivals jeden Abend etwa 300 bis 500 Jugendliche. Im Jahr 2017 kam es im Park zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und etwa 300 Jugendlichen. «Die Polizei begleitete ein medizinisches Team zur Behandlung einer alkoholisierten Person. Danach geriet die Situation ausser Kontrolle», erzählt der Forscher.

Im nächsten Jahr wurden von der Stadt Montreux und dem MJF Sozialarbeiterinnen und -arbeiter eingestellt. Diese sollten für einen besseren Kontakt zu den Jugendlichen und bei diesen für eine positive Beziehung zum Festival sorgen, die nicht allein auf die Sicherheitsmassnahmen beschränkt ist. Darüber hinaus wurden Wasserflaschen mit Präventionshinweisen verteilt. Ein geeigneter Ansatz, so der Forscher, denn auf diese Weise könnten die risikobehafteten Verhaltensweisen dieser Bevölkerungsgruppe ins Festgeschehen miteinbezogen werden, ohne sie zu verbieten und ohne, dass ein Einsatz der Sicherheitskräfte nötig wäre.

«Die Jugendlichen wollen zwar nicht Teil des Montreux Jazz Festivals sein, aber sie halten sich ganz in der Nähe auf und machen ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit.»      Dr Lucien Delley, EPFL’s LASUR

«In diesem Alter spielt der Alkohol- und Drogenkonsum eine gewisse Rolle. Das muss man berücksichtigen, um das Phänomen besser zu verstehen», erläutert Lucien Delley, der vor seinem Studium als Erzieher in einer Betreuungseinrichtung tätig war. «Die Jugendlichen wollen zwar nicht Teil des Montreux Jazz Festivals sein, aber sie halten sich ganz in der Nähe auf und machen ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit. Sie wollen ebenso einen Platz: Dazu treffen sie sich im Park und hören Musik. Im Rahmen ihrer Sozialisierung passieren sehr wichtige Dinge.»

Hin zum «Einbeziehen»

Diesen Ansatz, der auf Verständnis und Kommunikation beruht, nennt der Soziologe «Einbeziehen». Ihm zufolge ergibt sich dadurch ein Paradigmenwechsel im Bereich der Sicherheit und eine Abkehr von der binären Logik von Repression und Prävention, Gesellschaft und staatlicher Kontrolle. «Ich betrachte die Situation keinesfalls naiv: Es ist nahezu unvermeidlich, dass Jugendliche die Polizei provozieren und dass es im Umfeld von Partys zu Problemen kommt. Doch unter diesem Vorwand des Partymachens werden auch andere, bedeutsamere Themen behandelt, etwa die Stigmatisierung, die zur Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen und Verhaltensweisen führt. Um ausgrenzende Massnahmen zu begründen, werden Sicherheitserwägungen angeführt, doch dahinter verbergen sich zumeist Probleme des Zusammenlebens – oft wäre es besser, miteinander ins Gespräch zu kommen.»

«Doch unter diesem Vorwand des Partymachens werden auch andere, bedeutsamere Themen behandelt, etwa die Stigmatisierung, die zur Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen und Verhaltensweisen führt.»      Dr Lucien Delley, EPFL’s LASUR

Für Lucien Delley stellt das Einbeziehen somit eine grundlegend neue Art des Umgangs mit Risiken und mit dem Unbekannten dar. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Dinge zu verbieten oder alles kontrollieren zu wollen, sondern den Umgang mit «ausschweifenden» Verhaltensweisen zu lernen und neue Arten des Zusammenlebens zu finden. «Hierbei handelt es sich um eine neue raumbezogene und soziale Auffassung des Party- und des Sicherheitsbegriffs, die für ein Transitionsverständnis wesentlich ist», so der EPFL-Forscher Luca Pattaroni, der die Dissertation betreute.