«Auf die Plätze. Los!» Kartierung verzögerter Reaktionen im Gehirn

Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der EPFL identifizieren den Hirnmechanismus, mit dem wir eine rechtzeitige Handlung vorbereiten und gleichzeitig eine vorzeitige Ausführung unterdrücken.
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In gewisser Weise können wir uns das Gehirn als eine Input/Output-Maschine vorstellen; es empfängt über die Peripherie Signale aus der Umwelt und dem Körper und sendet entsprechende Antworten zurück. Und obwohl dies eine stark vereinfachte Sichtweise auf den komplexesten Computer der Welt ist, bildet sie dennoch die Grundlage für eine enorme Menge an Verhaltensforschung.

So hat eine Forschungsgruppe um Professor Carl Petersen von der EPFL-Fakultät für Life Sciences eine Studie in der Zeitschrift Neuron veröffentlicht, in der sie das erforscht, was Neurowissenschaftlerinnen als «verzögerte motorische Reaktion» bezeichnen. Die Bedeutung der Studie liegt auf der Hand: Rechtzeitig auf Reize zu reagieren – nicht zu früh, nicht zu spät – kann entscheidend sein, nicht nur für das biologische, sondern auch für das soziale Überleben.

«Unser Verhalten wird von inneren Wünschen wie 'essen wollen' oder 'berühren wollen' dominiert, die in unserem Kopf auftauchen, während wir die sensorische Welt erkunden», sagt Vahid Esmaeili, einer der Hauptautoren der Studie. «Allerdings ist es oft entscheidend, den richtigen Moment abzuwarten, bevor man eine Aktion startet. Bei einem Sprintrennen zum Beispiel macht man sich mit dem Signal 'Auf die Plätze' bereit, darf sich aber nicht vor dem 'Los' bewegen, egal wie begierig man ist.»

«Aufbauend auf den vorliegenden Ergebnissen können wir Schaltkreismechanismen darauf untersuchen, wie sich verschiedene Hirnareale gegenseitig unterdrücken oder aktivieren.»      Carl Petersen

Die Forschenden untersuchten den Mechanismus hinter den verzögerten motorischen Reaktionen, indem sie Mäuse trainierten, eine Verhaltensaufgabe auszuführen, die diesen Prozess simulierte: Die Mäuse erhielten zunächst eine kleine Vibration an ihren Schnurrhaaren, die als «Auf die Plätze»-Signal fungierte. Nach einer Verzögerung hörten die Mäuse einen Ton, der als «Los»-Signal diente. Wenn sie kurz nach dem «Los» an einer Düse leckten, bekamen die Mäuse einen Tropfen Zuckerwasser; leckten sie vor dem Ton, bekamen sie keinen. Die Idee war, die Mäuse darauf zu trainieren, bis zum «Los»-Ton zu warten, unabhängig davon, wie eifrig sie nach der Schnurrhaarvibration «Auf die Plätze», die das Zuckerwasser vorhersagt, an der Düse lecken möchten.

Indem sie diese verzögerte Reaktion mit ausgefeilten Techniken wie Weitfeld-Kalzium-Imaging, Multi-Region-High-Density-Elektrophysiologie und zeitaufgelöster Optogenetik (Aktivierung von Genen mit Licht) verfolgten, konnten die Forschenden den daran beteiligten Aktivitätskreislauf im Kortex des Gehirns genau verfolgen.

Die Studie zeigte, dass, während die Mäuse das Signal «Auf die Plätze» erhielten und auf das «Los»-Geräusch warteten, ihr motorisches Vorbereitungsgebiet aktiv wurde, während ihr motorisches Ausführungsgebiet unterdrückt war. «Durch die Inaktivierung des motorischen Vorbereitungsbereichs konnten die Mäuse die Düse nach dem 'Los'-Geräusch nicht lecken», erklärt Keita Tamura, der andere Hauptautor der Studie. «Im Gegensatz dazu leckten die Mäuse bei Aktivierung des motorischen Ausführungsbereichs die Düse vorzeitig und warteten nicht bis zum 'Los'-Geräusch.»

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der «Auf die Plätze»-Hinweis sowohl die Vorbereitung der Bewegung als auch die Unterdrückung ihrer vorzeitigen Ausführung in verschiedenen Gehirnregionen auslöst, was eine rechtzeitige Reaktion auf das «Los»-Signal ermöglicht. Genauer gesagt spielt ein Teil des Mäusegehirns, der «sekundäre Schnurrhaarmotorcortex» genannt wird, wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der Verknüpfung von Empfindungen des Schnurrhaars mit der tatsächlichen Planung einer motorischen Reaktion.

«Aufbauend auf den vorliegenden Ergebnissen können wir Schaltkreismechanismen darauf untersuchen, wie sich verschiedene Hirnareale gegenseitig unterdrücken oder aktivieren», sagt Carl Petersen, «das kann uns zu weiteren Erkenntnissen darüber führen, wie wir schnelle, präzise Bewegungen ausführen und wie wir interne Impulse durch kognitive Kontrolle unterdrücken können.»

Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern: «Unsere Ergebnisse deuten daher auf Zeit- und Aufgaben-spezifische Beiträge verschiedener kortikaler Regionen zur Schnurrbart-getriggerten Planung des gezielten Leckens und der rechtzeitigen Ausführung der geplanten Leckreaktionen hin.»

Weitere Informationen

Finanzierung

  • Schweizerischer Nationalfonds
  • Europäischer Forschungsrat
  • Marie Skłodowska-Curie-Maßnahmen der Europäischen Union
  • Forschungsstiftung für Opto-Wissenschaft und Technologie
  • Brain Science Stiftung
  • Japanische Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft
  • Ichiro Kanehara Stiftung

Referenzen

Vahid Esmaeili, Keita Tamura, Samuel P. Muscinelli, Alireza Modirshanechi, Marta Boscaglia, Ashley B. Lee, Anastasiia Oryshchuk, Georgios Foustoukos, Yanqi Liu, Sylvain Crochet, Wulfram Gerstner, Carl C.H. Petersen. Rapid suppression and sustained activation of distinct cortical regions for a delayed sensory-triggered motor response. Neuron 01. Juni 2021.