Städte, Standorte für eine nachhaltige Zukunft

Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in städtischen Gebieten. Daraus ergeben sich grosse Herausforderungen für die Sicherung einer nachhaltigen Zukunft – ein Thema, das am Welttag der Städte am 31. Oktober erörtert wird. Hier finden Sie einen Überblick über die Forschung der EPFL in diesem Bereich.
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Für die meisten von uns ist der 31. Oktober Halloween. Doch seit fast 10 Jahren ist dies auch der Tag der Weltstädte. Was haben die beiden Tage gemeinsam? Vielleicht eine gewisse Vorliebe für Übermass, Unverhältnismässigkeit und sogar Monstrosität? Immerhin verursachen die urbanen Zentren bis zu 75 % der weltweiten CO2-Emissionen. Wie sollten wir diese komplexen, wachsenden Gebilde mit Blick auf die Zukunft betrachten? Wie können wir sie weniger gefrässig nach Energie und Konsumgütern aller Art machen – oder kurz gesagt, sie zu nachhaltigeren, angenehmeren Orten zum Leben machen?

An der ENAC-Fakultät beschäftigen sich viele Forschende mit städtischen Fragen. In einem neuen Video mit dem Titel «Une ville où tu respires» (Eine Stadt, in der man atmen kann) beschreiben EPFL-Professorinnen und -Studierende aus den Bereichen Architektur, Bauingenieurwesen und Umwelttechnik ihre Forschungsarbeiten zu Verkehrsleitsystemen, zur Begrünung von Städten, zur Stadtplanung auf Quartiersebene und zu den Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf Gesundheit und Verkehr. Diese Studien wurden unter dem wachsamen Auge von Claudia R. Binder als Dekanin der ENAC durchgeführt, die dieses Amt seit vier Jahren innehat und Ende dieses Jahres ausscheiden wird. Wir haben sie zum Interview getroffen.

Claudia R. Binder, ENAC dean. © 2023 EPFL/A.Herzog

Welches sind die grössten Herausforderungen, vor denen Städte heute stehen?

Städte bedecken etwa 2 bis 3 % der Landfläche der Erde. Das ist nicht viel. Aber sie beherbergen mehr als 50 % der Weltbevölkerung, produzieren 80 % des BIP, verbrauchen 75 % der Ressourcen und sind für 75 % der CO2-Emissionen verantwortlich. Sie sind also die Orte mit den grössten Umweltauswirkungen, bieten aber auch die grössten Chancen. Im Laufe der Jahre haben sich Wohlstand, Bürgerrechte, technologische Innovationen und der Zugang zu Dienstleistungen wie Wasser und Gesundheitsversorgung mit der Ausdehnung der Städte verbessert. Aber auch die Kehrseite der Medaille ist sichtbar: zunehmende Ungleichheit, Überkonsum und Umweltzerstörung. Die grösste Herausforderung, vor der die Städte heute stehen, besteht also darin, das Positive und das Negative in Einklang zu bringen. Das heisst, wie können Städte erfolgreich zu mehr Nachhaltigkeit übergehen? Diese Frage stellt sich heute umso mehr, als exogene Faktoren wie der Klimawandel und die zunehmende Verstädterung es immer schwieriger machen, den Stadtbewohnern nachhaltige Lebensbedingungen zu bieten, die Wohnen, Transport, Bildung, Gesundheit, Ernährung und Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung umfassen.

Wie können wir konkret auf die Klima- und Umweltherausforderungen reagieren?

Die Anpassung an den Klimawandel erfordert Massnahmen zur Anpassung an die aktuellen und künftigen Auswirkungen. Dazu gehören die Einführung neuer Technologien – wie Sonnenkollektoren für Dächer und Fassaden und Elektrofahrzeuge –, die Renovierung von Gebäuden, Verhaltensänderungen zur Verringerung des Verbrauchs und die Neugestaltung von Städten. Im Hinblick auf Letzteres könnten Stadtplanende urbane Gebiete gut auf den Klimawandel vorbereiten, indem sie die so genannte blau-grüne Infrastruktur nutzen, bei der es sich im Grunde um ein strategisch geplantes Netz natürlicher und naturnaher Gebiete mit unterschiedlichen Merkmalen in verschiedenen Größenordnungen handelt. Dies würde bedeuten, dass die Zahl der Bäume, Parks und Gewässer erhöht wird – das Konzept der Schwammstadt – und die Begrünung von Häusern gefördert wird. Ein gutes Beispiel für eine solche Begrünung ist der Bosco Verticale in Mailand. Die Stadtplanenden könnten auch Flächen für die urbane Landwirtschaft schaffen. Diese Massnahmen würden Hitzeinseln abschwächen und weitere positive Auswirkungen haben, wie die Erhöhung der Artenvielfalt, die Verbesserung der Gesundheit der Bewohnerinnen und die Ernährung zumindest eines kleinen Teils der Stadtbevölkerung. Indem wir Städte auf diese Weise gestalten, können wir sicherstellen, dass sie gut auf den Klimawandel vorbereitet sind und ihren Bewohnenden wichtige Dienstleistungen bieten.

Wie lässt sich eine solche Stadt in Anbetracht der Komplexität und der Interessen, die auf dem Spiel stehen, umsetzen?

Meiner Meinung nach sollten Städte gemeinsam im Dialog zwischen Forschenden, politischen Entscheidungstragenden, Ingenieurfachleuten und Ökonominnen entworfen werden, wobei die Werte und Interessen der Gesellschaft zu berücksichtigen sind. In unserer Rolle als Forschende stellen wir wichtige Daten und Technologien wie Modellierungsprogramme und KI-gesteuerte Systeme zur Verfügung. Diese Technologien können den politischen Entscheidungsträgerinnen bei der Ausarbeitung einer Vision helfen, indem sie ihnen ermöglichen, die möglichen Ergebnisse ihrer vorgeschlagenen Massnahmen zu simulieren. Ein solcher kollaborativer, interdisziplinärer Ansatz würde die Entscheidungsträger befähigen und ihnen ein tieferes Verständnis für die unzähligen möglichen Entwicklungsszenarien für eine Stadt vermitteln, einschliesslich der damit verbundenen Vor- und Nachteile.

Und auch die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger ist wichtig. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, sie zwischen verschiedenen Szenarien wählen zu lassen und zu ermitteln, in welchem sie am liebsten leben möchten. Wir haben dies beispielsweise im HERUS-Labor (Human-Environment Relations in Urban Systems Lab) im Rahmen eines Bürgerforschungsprojekts getestet, das wir während der Pandemie durchgeführt haben. Mit Unterstützung von Kolleginnen aus der Informatik und dem College of Humanities der EPFL entwickelten sie eine App und baten die Bürgerinnen und Bürger, ihnen zu sagen, wie ihrer Meinung nach die Städte von morgen aussehen sollten. Die häufigsten Antworten betrafen die Themen Ökologisierung, Nachhaltigkeit, Empathie und Solidarität. Die Einbeziehung der Bürger und ihrer Werte in den Prozess ist für politische Entscheidungsträgerinnen und Forschende sehr aufregend, denn so können wir herausfinden, ob das, was wir für wichtig halten, mit dem übereinstimmt, was sie für wichtig halten – oder nicht.

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Warum ist die digitale Technologie für die künftige Stadtforschung so wichtig?

Die digitale Technologie öffnet die Tür zu neuen Forschungswegen. So können wir beispielsweise potenzielle Pfade und Kippbewegungen hin zu nachhaltigeren Zuständen simulieren. Diese Ergebnisse könnten politische Entscheidungsträger bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützen und ihnen die Möglichkeit geben, unbekannte Wege zu erkunden. Dies kann sehr wirkungsvoll sein und wird bisher nur unzureichend genutzt, vor allem auf der Ebene einer Stadt, da städtische Gebiete sehr komplex sind. Längerfristig könnten digitale Plattformen entstehen, die es Forschenden, Ingenieurfachleuten und politischen Entscheidungsträgerinnen ermöglichen, Daten auszutauschen, gemeinsam die Zukunft zu gestalten und neue Forschungsbereiche zu erkunden. An der EPFL gibt es zwei Initiativen in diese Richtung – Urban Twin und Blue City –, die darauf abzielen, die Gesellschaft einzubinden und zur politischen Entscheidungsfindung beizutragen, um beispielsweise die Ziele der Schweizer Energiestrategie 2050 zu erreichen.

Was ist Ihrer Meinung nach der grösste Beitrag, den Sie als Dekanin zu städtischen Themen geleistet haben?

Eine bemerkenswerte Errungenschaft ist unser Engagement für die Förderung der interdisziplinären Forschung in unseren Kernbereichen der Nachhaltigkeit: Klimawandel, Digitalisierung und Urbanisierung. Dieser Ansatz hat die Erkundung zahlreicher Forschungsmöglichkeiten gefördert. Wir haben die Auswirkungen von Bäumen auf die Luftqualität im Kanton Genf, das Potenzial von städtischen Böden als Kohlenstoffsenken, innovative Entwürfe für städtische Wasserwege und vieles mehr untersucht. Das Auftauchen dieser neuartigen, erfinderischen Ideen hat mich wirklich inspiriert.

Ein zweiter Bereich, in dem wir Fortschritte gemacht haben, ist die Gründung von FUSTIC, einer EPFL-Vereinigung, die mehr als 130 Personen aus Wissenschaft, Technik, Industrie und dem öffentlichen Sektor zusammenbringt, um nachhaltigere Infrastrukturen in Städten und Gebieten zu fördern. Wir haben auch unsere Beziehungen zu den lokalen Regierungen, insbesondere zum Kanton Genf, verstärkt. Dies hat dazu geführt, dass ENAC-Forschende regelmässig Vorträge vor kantonalen Beamten halten. Darüber hinaus haben wir mit Unterstützung der Kantone Genf und Waadt das Panel Lémanique d'analyse de la durabilité des pratiques ins Leben gerufen, das darauf abzielt, die Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber der Umwelt zu messen und Kompromisse für den Klimaschutz zu identifizieren.

«Es ist sehr spannend, mit der nächsten Generation von Forschenden zusammenzuarbeiten.»      Claudia R. Binder

Was waren Ihre grössten Überraschungen?

Aus einer kritischeren und allgemeineren Sicht habe ich das Gefühl, dass die Forschung langsam voranschreitet und eher schrittweise Fortschritte als grosse Sprünge macht. Einer der Gründe dafür ist meiner Meinung nach, dass wir dazu neigen, uns auf eine enge disziplinäre Forschung zu konzentrieren und kleine Fortschritte zu machen, um zu zeigen, dass wir in einem bestimmten Bereich hervorragend sind. Dabei verlieren wir aber oft den Blick für das grosse Ganze. Um die Probleme von heute anzugehen, brauchen wir beides: Spezialisten und Menschen, die Brücken zwischen verschiedenen Arten von Fachwissen schlagen können. In der Regel sind einige der grössten Innovationen am Rande einer Disziplin entstanden, nicht in ihrem Kern. Unser akademisches System fördert stark disziplinäre Exzellenz, was grossartig ist, aber es vernachlässigt manchmal die Randbereiche der Felder.

Als Dekanin ist es erfreulich, hervorragende neue Fakultätsmitglieder einstellen zu können, und es ist sehr spannend, mit der nächsten Generation von Forschenden zusammenzuarbeiten. Sie sind hoch motiviert, die Probleme unserer Zeit zu lösen, sind werteorientiert und denken über weiterreichende Fragen nach. Vor allem Architekturfachleute müssen die Bedürfnisse der Gesellschaft mit den Grundsätzen von Design und Wissenschaft in Einklang bringen und aus der Vergangenheit schöpfen, um die Zukunft zu gestalten. Ich bin davon überzeugt, dass es eine grosse Chance für uns – für mehr technologie-, daten- und modellorientierte Forschende – ist, auf unsere Kolleginnen und Kollegen zu hören, die darüber nachdenken, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Sie halten uns einen Spiegel vor und sagen: «Halten Sie inne und denken Sie kurz nach – stellen wir die richtigen Fragen?»

Denken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute mehr über die langfristigen Folgen ihrer Entdeckungen nach?

Einige tun das, sie denken über die langfristigen Auswirkungen ihrer Forschung nach. Ich halte es für wichtig, den Studierenden beizubringen, das grössere, systemweite Bild im Hinterkopf zu behalten und die Forschung, die sie betreiben, in einen Kontext zu stellen. Aber es stimmt, dass es oft schwer ist, sich die Auswirkungen wissenschaftlicher Entdeckungen vorzustellen, die oft dort liegen, wo wir sie am wenigsten erwarten!