Bessere Prävention als Schlüssel für ein gesünderes Leben
Gesund alt werden ist das Ziel der meisten Menschen. In der Schweiz stehen die Chancen dafür relativ gut. Im Durchschnitt werden Bewohnerinnen und Bewohner 84 Jahre alt. Das entspricht mit der höchsten Lebenserwartung in Europa. Die sogenannte «healthy lifespan» ab Geburt liegt allerdings deutlich tiefer, bei knapp 72 Jahren. Das heisst: Die letzten 12 Jahre im Leben einer Durchschnittsschweizerin oder eines -schweizers sind von gesundheitlichen Einschränkungen geprägt.
Ziel aller Bemühungen im Bereich Public Health muss daher sein, die Gesundheit gegen Lebensende zu fördern und bereits im Vorfeld Krankheiten zu verhindern. Genau dieses Ziel verfolgt auch der ETH-Bereich mit dem Strategischen Fokusbereich «Personalisierte Gesundheit» und zukünftig ab 2025 mit dem neuen Strategischen Schwerpunkt «Mensch und Gesundheit». Ein besseres Verständnis derjenigen Mechanismen, die der Gesundheit und den Krankheiten zugrunde liegen, soll dabei helfen, neue Behandlungsmöglichkeiten und Präventionsstrategien zu entwickeln.
Verjüngungskur für Zellen
Ein besseres Verständnis solcher Prozesse beginnt dabei im ganz Kleinen, bei den Zellen. Am PSI will Professor G. V. Shivashankar mit seinem Team verstehen, wie Krankheiten in einzelnen Zellen entstehen. Dazu haben die Forschenden einerseits eine Methode entwickelt, dank der man mit Lichtmikroskopie und KI die dreidimensionale Verpackung des Erbmoleküls DNA in den Zellen – die sogenannte Chromatinstruktur – analysieren kann. Kranke Zellen, so stellte sich heraus, unterscheiden sich dabei im Verpackungsmuster deutlich von gesunden Zellen. Mehr noch: «Wir können heute allein aufgrund des Musters der veränderten Chromatinstruktur sagen, ob es sich bei den erkrankten Zellen um Krebszellen oder um Hirnzellen von Alzheimer- oder Parkinson-Betroffenen handelt», sagt Shivashankar, Professor für Mechano-Genomik an der ETH Zürich zusammen mit dem PSI.
Eine zweite Entwicklung in Shivashankars Labor mutet noch revolutionärer an. Das Team konnte zeigen, dass nicht nur, wie lange geglaubt, das genetische Programm das Schicksal einer Zelle bestimmt, sondern dass dafür auch die Geometrie oder die Architektur der Zelle wichtig ist. Damit ist ihre Einbettung ins Gewebe gemeint und wie sie dort durch mechanische Kräfte gezogen oder gestaucht wird. «Je nachdem, ob man eine Zelle in die Länge zieht oder zusammendrückt, produziert sie andere Proteine», sagt Shivashankar. In der Fachsprache spricht man bei diesem Prozess von Mechano-Genomik.
Shivashankars Team konnte nun mit alternden Bindegewebszellen (Fibroblasten) zeigen, dass sich diese zu stammzellähnlichen Zellen zurückentwickeln, wenn sie unter festen mechanischen Bedingungen wachsen und sich teilen. Als die Forschenden diese mit Hilfe eines dichten Fasergerüsts wieder in Fibroblasten verwandelten, wirkten sie verjüngt. Wunden, die mit den verjüngten Fibroblasten behandelt wurden, heilten deutlich schneller als Wunden, in welche die ursprünglichen älteren Fibroblasten transplantiert wurden. Diese Methode könnte laut Shivashankar ein Türöffner sein für neuartige zellbasierte Therapien.
Probiotika gegen resistente Bakterien
An einer besseren Wundheilung tüfteln auch Forschende an der Empa in St. Gallen. So haben sie einen tragbaren Sensor entwickelt, mit dem sie direkt in der Wundflüssigkeit den Säuregehalt (pH), den Glukosegehalt und die Menge des Proteins MMP messen können. Diese drei Biomarker können anzeigen, wenn eine Wunde chronisch wird, sagt Professor René Rossi, Ko-Leiter des Departements «Materials meet Life» an der Empa. Bleibe der pH-Wert zu lange erhöht, sei dies ein Anzeichen für eine Chronifizierung. «Und wenn der Glukosewert zu stark fällt, ist das Hinweis darauf, dass die Wunde mit Bakterien infiziert ist», ergänzt Rossi.
Eine Infektion mit Bakterien wird in der Regel mit Antibiotika behandelt. Manchmal sind Wunden von Beginn an mit resistenten Keimen infiziert und gegen eines oder mehrere dieser Mittel resistent. In der Folge können die resistenten Erreger zu Entzündungen, Eiterungen und gar zu Blutvergiftungen führen. In der Schweiz sterben pro Jahr geschätzt 300 Menschen an Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien.
Zur Bekämpfung resistenter Keime in Wunden setzen die Empa-Forschenden auf eine neue Strategie. Sie entwickeln gelatinebasierte, poröse Hydrogele, in die Laktobazillen – das sind probiotische Bakterien, wie etwa aus Joghurts bekannt - eingebettet werden. In Wunden appliziert, entfalten die im Hydrogel eingeschlossenen Probiotika dann eine antibakterielle Wirkung. In Laborversuchen konnten die Forschenden mit dieser Methode zwei der gefährlichsten, wundspezifischen Erreger – Pseudomonas aeruginosa und Staphylococcus aureus – praktisch eliminieren. Bis zu einer Anwendung dieser vielversprechenden Technologie bei Patientinnen und Patienten dürfte es laut Rossi allerdings noch einige Jahre dauern.
Schutz vor Endometriose
Ebenfalls auf ein Hydrogel, aber für eine ganz andere Anwendung im Bereich der Frauengesundheit, setzt Professorin Inge Herrmann in ihrer Forschungsgruppe am Departement für Maschinenbau und Verfahrenstechnik ETH Zürich und Empa ein. Die Ingenieurin und ihr Team haben ein Hydrogel entwickelt, das in den Eileitern eingesetzt werden kann und dabei gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen soll. Zum einen könnte das sehr weiche Hydrogel, das anfangs kompakt ist, bei der Implantation in den Eileiter aber stark anschwillt, als Verhütungsmittel dienen. Andererseits könnte es zur Prophylaxe von Endometriose eingesetzt werden.
Endometriose gehört zu den häufigsten gynäkologischen Erkrankungen. Betroffene Frauen haben gutartige, meist sehr schmerzhafte Wucherungen von Gewebe der Gebärmutterschleimhaut, das sich ausserhalb der Gebärmutterhöhle ansiedelt. Wie eine Endometriose entsteht, ist aber noch weitgehend ungeklärt. Die laut Inge Herrmann wahrscheinlichste Erklärung lautet, dass Menstruationsblut, samt mitschwimmenden Zellen der Gebärmutterschleimhaut, rückwärts in die Eileiter und von dort in den Bauchraum fliesst.
Stimmt diese Theorie, könnte das in den Eileitern eingesetzte Hydrogel möglicherweise Neubildungen von Endometriose verhindern, indem es den Rückfluss von Menstruationsblut blockiert. Bisher testete Herrmanns Team das Hydrogel in einem Modell und während drei Wochen in einem Schwein. «Diese Versuche haben sich als sehr vielversprechend erwiesen», sagt Herrmann. Trotzdem: Bis Frauen das Hydrogel nutzen können, braucht es laut Herrmann noch viele Tests. Man müsse absolut sicher sein, dass das Implantat nicht toxisch wirke, dass es den Eileiter nicht schädige, dass es lange Zeit stabil bleibe und dass es auch ohne Rückstände wieder abbaubar sei. «Es wird noch ein paar Jahre dauern bis zu einer Zulassung», sagt Herrmann.
Lärm stresst auch im Grünen
Nicht nur technologische Entwicklungen sind für eine bessere Gesundheit enorm wichtig, auch einfache Präventionsmassnahmen: Zahlreiche Studien eines WSL-Teams um Nicole Bauer belegen, dass sich Testpersonen in einer grünen Umgebung besser von Stress erholen als in urbanen bebauten Gebieten. Manche der Studien zeigen, dass sich Menschen nach einem Aufenthalt im Grünen besser konzentrie-ren können. Ob und wie sehr dies auch bei Lärm der Fall ist, ist noch ungeklärt.
Dieser Frage gingen mehrere Teams der WSL und der Empa gemeinsam nach. In einer der Studien der WSL liessen sie über 350 Testpersonen durch lärmige und ruhige Wälder sowie städtische Gebiete spazieren. Die Gebiete unterschieden sich durch den Strassenverkehrslärm. Die Spaziergänge waren standardisiert, in Kleingruppen und dauerten rund 30 Minuten. Testpersonen, die in einem ruhigen Wald spazierten, berichteten von einer besseren Erholung und stärkerem Stressrückgang als jene in einem lärmigen Wald, gefolgt von jenen in einer ruhigen und jenen in einer lärmigen urbanen Umgebung.
Die Forschenden massen bei den Testpersonen auch die Spiegel des Stresshormons Cortisol. Diese nahmen nach Spaziergängen in allen vier Situationen ab, unterschieden sich aber nicht signifikant von den Bedingungen. «Das ist interessant!», sagt Bauer. «Wir nehmen an, dass sich mit der Bewegung das Cortisol senkte, die Bedingungen aber keinen Einfluss auf den Cortisolspiegel hatten.» Es ist bekannt, dass Bewegung per se einen starken Effekt auf das Stresshormon hat. Für den berichteten Stressrückgang gelte aber: «Lärm beeinträchtigt die Erholung und dem sollte bei der Planung von Städten Rechnung getragen werden.»
KI für medizinisches Wissen
Die menschliche Gesundheit ganz generell nimmt ein Projekt an der EPFL ins Visier. Die dort entwickelte künstliche Intelligenz (KI) «Meditron» soll den Zugang zu medizinischem Wissen vereinfachen und Ärztinnen und Ärzte weltweit bei Diagnosen und Behandlungsstrategien unterstützen. Das Meditron-Team, unter der Leitung von Professorin Mary-Anne Hartley, den Professoren Martin Jaggi und Antoine Bosselut sowie Doktorand Zeming Chen fütterte dazu das bestehende allgemeine Sprachmodell Llama-2 des Konzerns Meta in einem ersten Schritt mit sehr vielen qualitativ hochwertigen medizinischen Daten.
Die Leistungsfähigkeit des Sprachmodells evaluierte das Meditron-Team anhand dreier Standards für den medizinischen Entscheidungsprozess und verglich das Ergebnis mit bestehenden grossen Sprachmodellen. «Meditron schnitt bei diesen Tests besser ab als alle Open-Source-Modelle», sagt Chen. Um Meditron weiter zu ver bessern, liessen die Forschenden die KI in einem nächsten Schritt von Ärztinnen evaluieren. Das Resultat: Meditron stimmt derzeit bei 80 % der von den Ärzten gestellten Fragen mit den neuesten klinischen Praxisrichtlinien überein. «Das ist ein wesentlicher Fortschritt im Vergleich zu früheren Open-Source-Modellen», sagt Chen. «Aber klar, wir wollen in die Nähe von 100 % kommen.»
Meditron ist ein grosses multimodales Open-Source-Sprachmodell. Es soll Forschenden zur Weiterentwicklung und der Ärzteschaft zum Einsatz in der Praxis gratis zur Verfügung stehen. «Unser Ziel ist es, die Technologie zu demokratisieren», sagt Chen. Momentan ist Meditron noch nicht praxisreif. Damit die KI validiert werden kann, braucht es mehr klinische Studien. Eine solche findet derzeit im Rahmen des Projekts MOOVE in mehreren Spitälern in Ostafrika statt. «Es geht darum herauszufinden, ob Meditron einsatzbereit ist und ob ärztliches Fachpersonal die KI in ihren Arbeitsablauf integrieren kann», sagt Chen.
Sauberes Trinkwasser
Um ein globales Gesundheitsproblem kümmern sich Forschende an der Eawag. Über zwei Milliarden Menschen auf der Erde haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Sie sind ständig dem Risiko ausgesetzt, enterale Krankheitserreger aufzunehmen, die schwere Durchfallerkrankungen auslösen können. Jährlich sterben gemäss der WHO 829 000 Menschen an Durchfall, 60 % davon aufgrund von kontaminiertem Trinkwasser, fehlenden sanitären Einrichtungen oder mangelhafter Hygiene. Besonders tragisch trifft es vor allem die Schwächsten: Jeden Tag sterben rund 800 Kinder unter fünf Jahren an Durchfallerkrankungen.
Ein Team um die Eawag-Umweltingenieurin Sara Marks testet daher in ländlichen Gegenden in Guatemala, Nepal und Uganda – in Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen – einfache und günstige Technologien, um den Zugang zu sauberem Trink wasser zu verbessern. Dabei setzen die Forschenden primär auf die passive Chlorung des Wassers, eine vielversprechende Technologie zur Aufbereitung von Trinkwasser in abgelegenen Gebieten. In Guatemala zum Beispiel hat die Partnerorganisation Helvetas Guatemala eine PVC-Vorrichtung entwickelt, die für eine gleichmässige Chlordosierung im Wassertank sorgt, das Wasser von Keimen befreit und dazu beiträgt, dass die Menschen ihr Wasser nicht mehr zu Hause aufbereiten müssen.
Das Projekt in Guatemala ist zwar beendet, aber Helvetas führt die Verbesserungen weiter. Marks und ihr Team fokussieren sich jetzt auf die Zusammenarbeit in Nepal und Uganda im Rahmen von Aktionsforschungspartnerschaften, die seit über einem Jahrzehnt bestehen. Marks ist überzeugt, dass es weltweit einen grossen, wachsenden Markt für einfache und günstige passive Chlorungstechnologien gibt. «In Nepal werden bereits grosse Fortschritte bei der kommerziellen Entwicklung und Nutzung solcher Systeme gemacht.»
Ob auf globaler Ebene wie in Nepal oder auf Zellebene wie am PSI: Anstrengungen zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit sind auf allen Ebenen wichtig und können überall etwas bewirken. Die Herausforderung liegt darin, all die vielversprechenden Ansätze zu kombinieren und dann auch konkret um zusetzen. So könnte es künftig tatsächlich gelingen, die gesunde Lebensspanne für viele Menschen zu verlängern.