Was es nicht zu kaufen gibt, entwickeln wir selbst

Mit ihrer Arbeit verschieben die Forschenden am PSI die Grenzen des Wissens und der technologischen Entwicklung. Viele Komponenten für ihre Experimente kann man nicht einfach kaufen. Dann entwickeln sie diese einfach selbst – und verbessern damit viele weitere Anwendungen in der Wissenschaft oder Industrie.
Der DRS4: Bei dem am PSI entwickelten DRS4 (Domino Ring Sampler) handelt es sich um einen Mikrochip, der vereinfacht gesagt ein ultraschnelles Oszilloskop auf der Fläche eines Fingernagels vereint. (Grafik: Studio HübnerBraun)

Teilchenphysik ist aufwendig. Grosse Forschungsinfrastrukturen wie zum Beispiel der Protonenbeschleuniger LHC am CERN mit seinen vier Detektoren kosten Milliarden. Falls sie gefragt werden, wozu das alles nütze, haben die Forschenden ein paar gute Antworten parat. Über allem stehe der Erkenntnisgewinn, das Verschieben der Grenzen des Wissens, sagen sie. An den grossen Laboren würden ausserdem Tausende Fachkräfte ausgebildet, die mit den neuesten Technologien umgehen und in interdisziplinären Teams arbeiten könnten – ein Segen für die Hightech-Wirtschaft nicht nur der Schweiz. Ein weiteres Argument lautet: Wir entwickeln neue Technologien, die künftig auch für industrielle Anwendungen interessant werden.

Vor allem Letzteres ist das Steckenpferd von Stefan Ritt. Der Forschungsgruppenleiter am PSI ist Physiker und begeisterter Tüftler in Personalunion. Wenn ein Experiment am PSI eine besondere elektronische Schaltung benötigt, die es nirgends zu kaufen gibt, schwingt er kurzerhand den Lötkolben und baut sie selbst. So ist ihm vor zehn Jahren ein echter Meilenstein gelungen: DRS4. Beim «Domino Ring Sampler» handelt es sich um einen Mikrochip, der vereinfacht gesagt ein ultraschnelles Oszilloskop auf der Fläche eines Fingernagels vereint. Die Zeitauflösung beträgt weniger als zehn Billionstelsekunden. Damit können die Forschenden Teilchen finden, die aus Zerfallsprozessen von Myonen stammen. Die hohe zeitliche Auflösung und enorme Geschwindigkeit des Chips sind notwendig, weil in den Experimenten am PSI pro Sekunde dreissig Millionen solcher Zerfälle stattfinden, deren Signale sich überlappen. Das macht die Auswertung so knifflig.

Einer der treuesten «Kunden» ist Aldo Antognini mit seinen Experimenten zur Bestimmung des Protonenradius. Aber nicht nur: Weltweit nutzen zahlreiche Forschungslabore den DRS4. Medizinforschende in Tübingen beispielsweise, um Hirntumore möglichst genau zu lokalisieren. 10000 Stück des DRS4 wurden schon verkauft. Wegen der hohen Nachfrage werden die Chips heute in Taiwan gefertigt und von der RADEC GmbH vertrieben, einem Spin-off des PSI im schweizerischen Koblenz. Die Firma des ehemaligen PSI-Physikers Radoslaw Marcinkowski bietet Services für Weltraummissionen und ist damit der beste Beweis, dass das Know-how aus dem PSI weit über dessen Tore hinaus geschätzt und genutzt wird.

«Wir verkaufen die Chips und die dazu gehörenden Elektronikboards zum Selbstkostenpreis. »      Stefan Ritt, Forschungsgruppenleiter am PSI

Weltweit im Einsatz

Eines ist Stefan Ritt aber wichtig: «Wir verfolgen keine kommerziellen Interessen, wir verkaufen die Chips und die dazu gehörenden Elektronikboards zum Selbstkostenpreis.» An erster Stelle stehe immer der Forschungsauftrag des PSI. Das gelte auch für die Elektronik und Software für neue, sehr schnelle Teilchendetektoren, die Ritts Team derzeit entwickelt. In Zukunft möchte Ritt ausserdem den DRS4-Chip so verbessern, dass man die Daten noch schneller auslesen kann.

Auch wenn das PSI seine Hard- und Software hauptsächlich für eigene Forschungszwecke entwickelt, heisst das nicht, dass diese Forschung auf dem Gelände in Villigen stattfinden muss. PSI-Forschende sind auch an Kollaborationen in anderen Forschungszentren mit von der Partie, allen voran am CERN bei Genf. Das stellt mit dem grossen Protonenbeschleuniger LHC die Infrastruktur bereit, die Detektoren CMS, ATLAS, LHCb und ALICE werden dagegen von internationalen Konsortien betrieben. Allein an CMS sind rund zweihundert Forschungsinstitute weltweit mit über 5800 Forschenden, Verwaltungsmitarbeitenden sowie Technikerinnen und Technikern beteiligt. Jeder Partner steuert einen Part zum Detektor und dessen Betrieb bei und darf dafür die Daten nutzen.

Eine immens wichtige Komponente von CMS, der gross wie ein Mehrfamilienhaus ist und 12500 Tonnen wiegt, ist der Silizium-Pixeldetektor. Er sitzt ganz innen und ist vergleichsweise klein, erfüllt aber eine wichtige Funktion. Er misst anhand der geladenen Teilchen, die bei den Protonen-Kollisionen entstehen, auf Mikrometer genau den Ort, wo die Kollision stattgefunden hat. Dieser Ort ist die Basis für die Messungen der weiteren Detektoren, die wie Zwiebelschichten weiter aussen folgen. Dieser Pixeldetektor wurde am PSI entwickelt und gebaut.

Im Prinzip ist der Detektor eine digitale Kamera mit 124 Millionen Pixeln von 150 mal 100 Mikrometern, die allerdings hier kein Licht messen, sondern geladene Teilchen – und zwar vierzig Millionen Mal pro Sekunde. Der erste Detektor ging 2008 mit dem LHC in Betrieb und bestand aus drei zylindrischen Schichten. Derzeit ist die zweite Evolutionsstufe mit vier Schichten und schnellerer Elektronik in Betrieb.

Für die nächste Ausbaustufe des LHC, die 2029 an den Start gehen soll, ist selbst dieser Detektor viel zu langsam. Die Luminosität – man könnte sagen: die Helligkeit – des LHC wird sich verfünffachen und CMS muss eine entsprechend grössere Zahl an Teilchenkollisionen verarbeiten. Für diese dann dritte Generation des Pixeldetektors hat sich Lea Caminada, Leiterin der zehnköpfigen Hochenergiephysik- Gruppe am PSI und Professorin an der Universität Zürich, etwas Neues überlegt: das Tracker-Extended-PiXel-System. TEPX soll einen noch größeren Raumwinkel abdecken und auch Teilchen registrieren, die annähernd in Richtung dieser Strahlen nach vorne oder hinten wegfliegen. Das ist wichtig, weil bestimmte exotische Teilchen – darunter auch das berühmte Higgs-Teilchen – Signaturen aufweisen, die nur an diesen Orten gemessen werden können und zurzeit nicht abgedeckt sind. Weil die Fläche des Detektors viel grösser sein wird und doppelt so viele Module verbaut werden, entwickelt das Team einen Roboter, der die Montage automatisiert.

Die Schweizer Wirtschaft profitiert

Die hauseigene Entwicklung von Pixeldetektoren kommt auch anderen Forschungsfeldern zugute, etwa der Myon-Spin-Spektroskopie. Sie kann die magnetischen Eigenschaften von Materialien, etwa für künftige Quantencomputer, bestimmen. Dazu wird dieses Material in einem Magnetfeld mit Myonen beschossen, die in Mikrosekunden in Positronen zerfallen. Aus der zeitlichen Verteilung der Positronen können die Forschenden auf die Magnetisierung des Materials schliessen. Bisher geht das nur, wenn die Myonen einzeln nacheinander eintreffen. Der schnelle Detektor des PSI würde es erlauben, mit vielen Myonen gleichzeitig zu messen, was die Messrate vervielfachen und ein dreidimensionales Abbild der Magnetisierung im Inneren des Materials liefern würde.

«Von der gegenseitigen Unterstützung profitieren unsere Forschung und auch die Schweizer Wirtschaft. »      Lea Caminada, Forschungsgruppenleiterin am PSI und Professorin an der Universität Zürich

So eine Apparatur könnte auch für industrielle Anwendungen interessant sein. Christian Brönnimann, einst Doktorand am PSI und Gründer des PSI-Spin-off DECTRIS AG in Baden-Dättwil, hat den ersten Silizium-Pixeldetektor für CMS mitentwickelt und zu einem kommerziell erfolgreichen Produkt gemacht. Die DECTRIS-Detektoren sind führend bei der Analyse von Röntgenstrahlen. Eine Spezialität des Unternehmens sind Hybriddetektoren, die gleichzeitig auch Elektronen zählen. «Durch die Grundlagenforschung am PSI sind hundert hoch qualifizierte Arbeitsplätze entstanden», so Brönnimann. Noch heute arbeiten DECTRIS und PSI zusammen. Lea Caminada: «Wir unterstützen uns gegenseitig mit Know-how bei der Entwicklung und dem Bau von neuen Detektoren. Davon profitiert unsere Forschung und davon profitiert auch die Schweizer Wirtschaft.»