Wissenschaft im Dienst der humanitären Hilfe

Mit innovativen Technologien und wissenschaftlicher Expertise Menschen in Not helfen: Mit diesem Ziel lancierten das IKRK, die ETH Zürich und die EPFL 2020 die Initiative «Engineering for Humanitarian Action». Sechs Projekte führten bereits zu konkreten Verbesserungen für das IKRK.
Die Initiative «Engineering Humanitarian Action» will das Know-​how der beiden Technischen Hochschulen in den Dienst von Menschen in Notlagen zu stellen. (Bild: IKRK)

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) setzt sich weltweit für Menschen ein, die von Kriegen und Konflikten betroffen sind. Um diese humanitäre Hilfe noch wirksamer planen und umsetzen zu können, lancierten die ETH Zürich, die EPFL und das IKRK im Dezember 2020 die Initiative «Engineering for Humanitarian Action». Das Ziel: Wissen und Technologien der beiden Hochschulen dort nutzbar zu machen, wo sie am dringendsten gebraucht werden – in humanitären Krisen.

In Rahmen der Initiative wurden in den letzten zwei Jahren zwölf Projekte der ETH Zürich und der EPFL gefördert. Sechs dieser Projekte haben bereits zu konkreten Verbesserungen für das IKRK geführt: So haben die Forschenden zum Beispiel die Logistik von medizinischen Gütern verbessert, die sichere Identifikation von Flüchtenden durch den Einsatz biometrischer Systeme vereinfacht und eine neue digitale Infrastruktur zum Schutz vor Cyberangriffen geschaffen.

«Die Zusammenarbeit zeigt, wie digitale Technologien und wissenschaftliche Expertise die wichtige Arbeit des IKRK unterstützen können und so Menschen in Notlagen zugutekommen», betont ETH-Präsident Joël Mesot.

«Wir sind gespannt auf die praktischen Auswirkungen der bereits abgeschlossenen oder laufenden Projekte sowie auf die neuen Vorschläge», fügt EPFL-Präsident Martin Vetterli hinzu. «Unsere Forschenden sind motiviert, in diesen turbulenten Zeiten einen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten.»

Gilles Carbonnier, Vizepräsident des IKRK, erklärt: «Wissenschaftliche und technologische Fortschritte bieten ein enormes Potenzial, um wirksame Innovationen in der humanitären Hilfe freizusetzen. Wir können noch einiges erreichen, wenn wir weitere Forschungsergebnisse in die Tat umsetzen.»

Grosszügige Spenden der Stavros Niarchos Foundation (SNF), der Stiftung für das IKRK, von Rolex und der Fondation Lombard Odier werden es der ETH Zürich, der EPFL und dem IKRK ermöglichen, ihre Zusammenarbeit fortzusetzen und neue Projekte zu realisieren. Die Unterstützung dieser Partner wird sich bis Ende dieses Jahres auf mehr als 12 Millionen CHF belaufen.  

Sechs Projekte, die das IKRK bei seiner Arbeit unterstützen

Nachhaltiger Bauen in der humanitären Hilfe

Der Bau von Gesundheitseinrichtungen und anderen Infrastrukturprojekten ist ein wichtiger Teil der humanitären Arbeit des IKRK. Um die Nachhaltigkeit dieser Bauprojekte zu verbessern und sie möglichst umweltschonend umzusetzen, hat das IKRK mit Forschenden der ETH Zürich und der EPFL zusammengearbeitet.  

Viele am Markt verfügbaren Softwareprodukte zur Unterstützung von Umweltverträglichkeitsprüfungen können im humanitären Bereich nicht eingesetzt werden, da es in den Ländern, wo das IKRK tätig ist, nicht genug Daten gibt und die Indikatoren für Nachhaltigkeit oft stark variieren.  Die ETH-Forschenden Giulia Celentano und Guillaume Habert sowie André Ullal von der EPFL haben daher eine eigene Online-Planungssoftware entwickelt, die auf die Bedürfnisse des IKRK zugeschnitten ist.

Mittels Checklisten, Visualisierungen und Hinweisen sensibilisiert die Software Nutzende dafür, wie sich Planungsentscheidungen auf die Nachhaltigkeit eines Gebäudes auswirken.  «Das IKRK kann in Zukunft ermitteln, welche Gebäudeform den klimatischen Gegebenheiten und lokalen Naturgefahren am besten entspricht», erklärt Celentano. «Unsere Software kann zudem sehr einfach und intuitiv mit Informationen über das geplante Projekt gefüttert werden», ergänzt ETH-Professor Habert.

«Indem das Tool wichtige Nachhaltigkeitsprinzipien auf einfache Weise hervorhebt, wird es uns helfen, bessere Entscheidungen bei der Gestaltung von Bauprojekten zu treffen», sagt Pavlos Tamvakis vom IKRK. Die Software wurde bereits am World Urban Forum in Polen präsentiert. Andere humanitäre Organisation, wie das UNHCR, haben bereits Interesse bekundet.

KI schätzt Bevölkerungsdichte in Krisengebieten

Um humanitäre Massnahmen wirksam planen zu können, muss das IKRK wissen, wie viele Menschen in etwa in einem Krisengebiet leben und potenziell von einem Konflikt betroffen sind. Oft sind diese Informationen nicht verfügbar oder sehr schwer zu erheben. Diesem Problem nahmen sich ETH-Professor Konrad Schindler und sein EPFL-Kollege Professor Devis Tuia an: «Auf Basis öffentlich zugänglicher Geodaten können wir mittels künstlicher Intelligenz die Bevölkerungsdichte eines Gebietes schätzen und auf einer Karte abbilden», so Schindler. 

Die Forschenden verwenden aus Satellitenbildern abgeleitete Geodaten, um ein Gebiet so genau wie möglich geographisch zu beschreiben: Die Anzahl und Grösse von Gebäuden in einem Gebiet, die Dichte des Strassennetzes und das Verhältnis von Wald zu überbauten Gebieten. «Die KI lernt auf der Grundlage des geographischen Kontexts Annahmen über die Siedlungsstruktur zu machen. Sie weiss zum Beispiel, dass Gebäude im Stadtzentrum höher sind als jene am Stadtrand. Dadurch kann sie von Gebäudegrundrissen auf Bevölkerungszahlen schliessen», erklärt Schindler.

Die Forschenden haben einen Prototyp ihrer Software bereits mit Daten aus mehreren afrikanischen Ländern wie Tansania, Uganda und Ruanda getestet. In all diesen Ländern ist auch das IKRK aktiv. Entstanden sind eine Reihe von digitalen Karten, auf denen für jeden Hektar eine geschätzte Bevölkerungszahl zu sehen ist. Schindler uns seine Forschungsgruppe hoffen, die Software bald an das IKRK übergeben zu können. «Durch die Partnerschaft mit der ETH Zürich und der EPFL haben wir Zugang zu einer leistungsstarken Technologie, für deren Entwicklung das IKRK allein nicht die Ressourcen hätte», sagt Thao Ton That Whelan vom IKRK.

Bessere medizinische Versorgung durch effiziente Logistik

Die Versorgung mit medizinischen Produkten in Konfliktgebieten stellt hohe Anforderungen an die Logistik des IKRK. Immer wieder kommt es zu Lieferengpässen und Problemen in der Verteilung lebenswichtiger Güter. Um deren zuverlässige Auslieferung zu verbessern und dadurch die Qualität der medizinischen Versorgung während humanitärer Krisen zu erhöhen, hat das IKRK in den letzten zwei Jahren mit ETH-Professor Stephan Wagner und Bublu Thakur-Weigold von der Professur für Logistikmanagement der ETH Zürich zusammengearbeitet.

Wagner und Thakur-Weigold untersuchten exemplarisch die Lieferketten zwischen einer Sanitätseinrichtung des IKRK in Dschuba im Südsudan und der Logistikzentrale in Genf. Dabei erkannten sie, dass die Versorgungsprobleme auf eine zu zentralisierte Planung zurückzuführen sind. Viele der 270 medizinischen Güter werden aktuell noch in Genf bestellt und verteilt. «Doch für regelmässig verwendete Konsumgüter wie zum Beispiel Verbände oder gewisse Medikamente ist es effizienter, sie lokal zu kaufen und zu verteilen», erklärt Wagner.

«Durch die Zusammenarbeit mit der ETH Zürich konnten wir einige Intuitionen, die wir über unsere Lieferketten hatten, wissenschaftlich überprüfen und Wege finden, sie effizienter zu gestalten», sagt Ruben Naval Artal vom IKRK. Dem IKRK steht in Zukunft ein von der ETH-Forscherin Thakur-Weigold entworfenes digitales Analysetool zur Verfügung. Dieses unterstützt die Logistikabteilung des IKRK dabei zu entscheiden, welche Mengen von jedem Artikel an den jeweiligen Standorten bereitzuhalten sind. Dadurch werden Spitäler und Sanitätsstellen in Krisengebieten zuverlässiger und günstiger mit lebensrettenden Produkten versorgt.

Private biometrische Daten für die Verteilung von Hilfsgütern

Humanitäre Organisationen stehen vor der Herausforderung, effizient und fair Hilfe zu leisten. In humanitären Krisen ist die Feststellung der Identität von Hilfsempfängern eine besonders schwierige Aufgabe, da viele der betroffenen Menschen sich nicht ausweisen können.

Der Einsatz biometrischer Daten wie Fingerabdrücke oder Iris-Scans kann dieses Problem zwar lösen, wirft aber erhebliche Bedenken hinsichtlich der Sicherheit persönlicher Daten auf. EPFL-Professorin Carmela Troncoso und Wouter Lueks, Postdoktorand vom EPFL Spring Lab, haben ein biometrisches System entwickelt, das die persönlichen Daten schützt und damit für humanitäre Einsatz geeignet ist.

Zwei Kontrollmechanismen helfen dabei, Datenlecks oder -diebstähle zu verhindern: Zum einen wurde das System dezentralisiert, damit die Nutzer ihre biometrischen Daten lokal speichern können. Dadurch sinkt das Risiko eines gross angelegten Lecks und die Nutzerrechte werden geschützt. Darüber hinaus kann das System auch ohne umfassende Datenerfassung gewährleisten, dass alles mit rechten Dingen zugeht: «Wir verwenden lediglich die Summe aller Transaktionen und die Anzahl der antragstellenden Familien», erklärt Lueks. Mittels Kryptographie verbergen die Forschenden die Details zu den einzelnen Transkationen, während wichtige Informationen zur Prüfung erhalten bleiben.

«Dieses Projekt ist für uns von entscheidender Bedeutung, da verlorene oder ungeschützte Daten Flüchtlinge in Gefahr bringen können», sagt IKRK-Mitarbeiter Vincent Graf Narbel.

«Durch die Zusammenarbeit mit der ETH Zürich konnten wir einige Intuitionen, die wir über unsere Lieferketten hatten, wissenschaftlich überprüfen und Wege finden, sie effizienter zu gestalten.»      Ruben Naval Artal, IKRK

Eine sichere digitale Infrastruktur

Im Januar dieses Jahres wurde das IKRK Opfer eines ausgeklügelten Cyberangriffs. Ein Staat oder eine staatlich unterstützte Gruppierung entwendete die persönlichen Daten und vertrauliche Informationen von über 515’000 Personen –  darunter Vermisste, Inhaftierte und Menschen, die auf Grund eines Konfliktes von ihren Familien getrennt wurden. Der Vorfall zeigt: Das IKRK und andere humanitäre Organisationen müssen ihre digitale Infrastruktur sichern, um gefährdete Menschen besser schützen zu können.

So ist zum Beispiel eine sichere Cloud-Umgebung notwendig, um unerlaubte Zugriffe zu verhindern und den Zugang und die Integrität sensibler Daten zu garantieren. Um das IKRK besser vor Cyberattacken zu schützen, haben die drei ETH-Professoren Luca Benini, Srdjan Capkun und Adrian Perrig eine neue digitale Infrastruktur für das IKRK entwickelt. Diese umfasst neben einem auf das IKRK zugeschnittenen Netzwerk, das Metadaten schützt, die an der ETH Zürich entwickelte Netzwerktechnologie SCION und eine neuartige Internet- und Cloud-Infrastruktur, die resilienter gegen Hackerangriffe aller Art ist. Auf der Ebene der Hardware sollen an der ETH Zürich entwickelte Prozessoren zusätzlich gegen Angriffe schützen.

In Zukunft können das IKRK und andere humanitäre Organisationen diese neue Architektur nutzen, um Daten sowohl intern als auch mit den betroffenen Bevölkerungsgruppen sicher zu teilen. «Das Ziel dieses Projektes deckt sich gut mit unserem Bestreben, im digitalen Raum unabhängiger zu werden», sagt Vincent Graf Narbel vom IKRK.

Schädliche Informationen gegen humanitäre Organisationen

Desinformation und hasserfüllte Rhetorik sind gängige Mittel, um ethnische und religiöse Spannungen zu schüren und zu Gewalt anzustiften. Auch humanitäre Organisationen sind davon betroffen: So wurden Mitarbeitende des Roten Kreuzes, die im Einsatz gegen Ebola waren, 2018 Opfer von Desinformationskampagnen, die zu Gewalt führten.

EPFL-Professor Karl Aberer und sein Team vom Distributed Information Systems Laboratory entwickeln technische Methoden, um Desinformation in den sozialen Medien, die gegen humanitäre Organisationen gerichtete ist, zu beobachten und zu bekämpfen. Die Forschenden untersuchten, wie sich Desinformation auf humanitäre Organisationen auswirkt und welche Methoden dabei zum Einsatz kommen. Diese Erkenntnisse tragen dazu bei, künftige Angriffe zu verhindern und die Sicherheit der humanitären Helfer vor Ort zu gewährleisten.

«Für das IKRK ist es wichtig, Desinformationskampagnen gegen humanitäre Organisationen und ihre Mitarbeiter zu verhindern, damit wir die Menschen in Not tatsächlich erreichen und Hilfe leisten können», sagt Fabrice Lauper vom IKRK.