Ein Update für den Selbstversorgungsgrad

Der Selbstversorgungsgrad beurteilt die Leistung des Agrarsektors im Licht der Ernährungssicherheit. Den aktuellen Herausforderungen der Landwirtschaft wird er aber nicht gerecht, meint Roman Hüppi.
Zuckerrüben spielen aufgrund ihres hohen Energiegehalts eine (zu) grosse Rolle im Schweizer Selbstversorgungsgrad. (Bild: iStock  /Victority)  

Die beiden Pestizid-Initiativen sind an der Urne gescheitert. Doch damit sind die Umweltprobleme nicht gelöst, und auch die Forderungen nach einer ökologischeren Landwirtschaft sind nicht vom Tisch. Die Debatte bleibt uns also erhalten. Schauen wir, dass sich ihre Qualität erhöht.

In bisherigen Diskussionen wurde oft der Selbstversorgungsgrad ins Feld geführt. Die Kennzahl gibt an, zu welchem Anteil die Schweiz ihren Bedarf an Nahrungsmitteln aus eigener Produktion decken kann. Ein befürchteter sinkender Selbstversorgungsgrad ist das häufigste Argument gegen eine ökologischere Landwirtschaft.

Das hat Gewicht. Ernährungssicherheit ist in der Schweiz seit jeher ein wichtiges Ziel. Für aktuelle Krisen ist der klassische Selbstversorgungsgrad meiner Ansicht nach aber eine zweifelhafte Referenz: Im Kontext von Klimawandel, Artensterben und ernährungsbedingten Volkskrankheiten ist seine Aussagekraft beschränkt. Für die anstehende Debatte schlage ich vor, diesen wichtigen Gradmesser der Landwirtschaft an heutige Herausforderungen anzupassen.

Auf Kalorienproduktion getrimmt

Gemäss Bund beträgt der Schweizer Brutto-Selbstversorgungsgrad der letzten Jahre etwa 60 Prozent.1 Berücksichtigt man, dass rund ein Viertel der Tierproduktion auf importierten Futtermitteln (jährlich 1.4 Millionen Tonnen) beruht, sinkt der Netto-Wert auf 50 Prozent. Die andere Hälfte importieren wir. Hoch selbstversorgend sind wir bei tierischen Nahrungsmitteln (Milchprodukte 115 %, Fleisch 80 %). Bei pflanzlichen Produkten ist die Schweiz mit 40 Prozent hingegen eher selbst-unterversorgt. Gerechnet wird in Nahrungsenergie.

Diese Metrik entstand in der Not der Weltkriege und ist eindimensional auf die Produktion von Kalorien getrimmt. Aus Sicht der Versorgung macht es Sinn, möglichst viele Nahrungsmittel im Inland zu produzieren. Bis heute lässt sich jede weitere Intensivierung der Landwirtschaft mit dem steigenden Selbstversorgungsgrad legitimieren.
 

«Ernährungssicherheit ist weit mehr als nur Kalorien – sie braucht intakte Natur und fruchtbare Böden.»      Roman Hüppi

Doch diese Logik greift nicht mehr. Eine maximale Selbstversorgung ist nicht in jedem Fall erstrebenswert. Denn je intensiver man produziert, desto grösser werden die Umweltschäden. Wenn die Artenvielfalt schwindet und Böden erodieren, ist die Versorgung im Kern gefährdet. Ernährungssicherheit ist mehr als nur Kalorien – sie braucht intakte Natur und fruchtbare Böden.

Gemäss Analysen von Vision Landwirtschaft sind nicht die zu Normalzeiten produzierten Kalorien entscheidend für eine sichere Versorgung in Krisen, sondern das natürliche Produktionspotenzial und die Fähigkeit, den Agrarbetrieb bei Bedarf rasch anzupassen.3

Selbstversorgend – dank importierter Energie

Ein hoher Selbstversorgungsgrad ist also kein Garant für Ernährungssicherheit. Das liegt auch daran, dass diese Kennzahl den Input für die erzeugten Nahrungsmittel ignoriert.

Um die hohen Versorgungsgrade zu erreichen, setzen Landwirte zahlreiche Produktionsmittel ein: Direkte Energie in Form von Strom, Brenn- und Treibstoffen. Und ein Vielfaches davon an indirekter oder «grauer» Energie, die in den benötigten Produkten steckt – neben Futtermitteln etwa Saatgut, Dünger, Pestizide sowie Werkzeuge, Maschinen und Ställe. Schätzungen zufolge braucht unsere Landwirtschaft etwa zwei bis drei Mal so viel Fremdenergie, wie sie in Form von Nahrung erzeugt.4 Den grössten Teil dieser Fremdenergie importieren wir. Der Selbstversorgungsgrad basiert aber darauf, dass die Produktionsmittel auch in Krisen verfügbar sind.

Um die Versorgungssicherheit zu beurteilen, müsste ein geeigneter Indikator aus meiner Sicht auch die Energiebilanz der Inlandsproduktion berücksichtigen und Energieimporte negativ verbuchen. Bislang fehlt es jedoch an Methoden, um solche Abhängigkeiten sinnvoll in der Nahrungsmittelbilanz zu integrieren.

Ein solcher Ansatz wäre auch für die Klimakrise relevant. Hitze, Dürren und Starkniederschläge fordern die Landwirtschaft bereits heute vielerorts heraus. Solange die importierte Energie aus fossilen Quellen stammt und Futtermittel auf gerodetem Urwald wachsen, treiben Importe den Klimawandel an und gefährden so die heimischen Erträge.

Wir ernähren uns nicht nur von Kalorien

Auch gesundheitlich macht der Selbstversorgungsgrad heute wenig Sinn. Energiearme aber nährstoffreiche Nahrungsmittel wie Gemüse und Früchte haben wenig Gewicht. Zucker hingegen schlägt mit seinem hohen Energiegehalt stark zu Buche. Im Namen der Selbstversorgung wird die Produktion gefördert, obwohl Zucker in den heute konsumierten Mengen schädlich ist.

What kind of agriculture do we want?

Auch Milch und Fleisch konsumieren wir in ungesundem Mass. Gesundes Gemüse, Früchte oder Nüsse stellt die Schweiz hingegen nur zu einem geringen Anteil selber her. Denkbar wäre, den Selbstversorgungsgrad auf eine ausgewogene Ernährung auszurichten statt ihn wie bisher am aktuellen Konsum zu messen. Eine Umstellung von tierischen zu mehr pflanzlichen Lebensmitteln würde jedenfalls auch die Selbstversorgung deutlich stärken.

Zum Autor

Roman Hüppi
Postdoc an der Professur für nachhaltige Agrarökosysteme, ETH Zürich