Schweizer Shutdown besonders belastend für Frauen und Studierende

Drei EPFL-Studien über die Auswirkungen des ersten COVID-19-Shutdowns in der Schweiz wurden soeben veröffentlicht. Die Studien basieren auf einer Umfrage unter den Bewohnerinnen und Bewohnern der Schweiz, die während des Shutdowns durchgeführt wurde. Sie zeigen, wie die Einschränkungen zu einem höheren Stresslevel führten und die Art und Weise, wie die Menschen das Wohnen betrachten, veränderten.
Bei den befragten Personen war der Anstieg des Stressniveaus bei Frauen 42 % höher als bei Männern. © iStock

Der Bund hat die Schweiz vom 16. März bis 19. Juni 2020 abgeriegelt, um den rasanten Anstieg der COVID-19-Infektionsraten einzudämmen. In drei EPFL-Studien wurde untersucht, wie die Schweizer Bevölkerung den Shutdown in Bezug auf psychischen Stress und ihre Wohnprioritäten erlebte. Die Ergebnisse zeigen, dass 60 % der Befragten ihre Definition des idealen Zuhauses änderten und dass Frauen und Studierende psychisch am meisten litten – was darauf hindeutet, dass die politischen Entscheidungstragenden den Bedürfnissen dieser Gruppen im Falle künftiger Abriegelungen mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.

Laut der ersten Studie, die in der Fachzeitschrift Frontiers in Psychology veröffentlicht wurde, waren Studierende, Frauen, die von zu Hause aus arbeiten und den Haushalt führen müssen, sowie Alleinlebende am stärksten vom Shutdown betroffen. Bei den befragten Personen war der Anstieg des Stressniveaus bei Frauen 42 % höher als bei Männern und bei Studierenden 29 % höher als bei Erwerbstätigen, Arbeitslosen und Rentnern. Diese Ergebnisse stimmen mit denen aus den Nachbarländern überein, auch wenn die Lockdowns in Frankreich und Deutschland restriktiver ausfielen.

«Dies zeigt, dass die Ungleichheit im Wohnungswesen nach wie vor ein Thema ist und dass sie sich tatsächlich negativ auf das Wohlbefinden der Menschen auswirkt.»      Livia Fritz, Postdoc bei HERUS

Kein Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Gebieten

Die Studie zeigte auch, dass die Art der Wohnung in diesem Zeitraum eine wichtige Rolle spielte. Bei den Befragten, die in einer Wohnung mit Garten oder einer Kombination von Aussenbereichen wie Garten und Balkon lebten, war der Anstieg des Stressniveaus um 23 % geringer. «Dies zeigt, dass Ungleichheit beim Wohnen immer noch ein Thema ist und dass diese Ungleichheit einen realen, negativen Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen hat», sagt Livia Fritz, Postdoc am Human-Environment Relations in Urban Systems Laboratory (HERUS) der EPFL und zusammen mit Ralph Hansmann, einem Umweltsystemwissenschaftler der ETH Zürich, eine der Autorinnen der Studie. «Wir waren jedoch überrascht, dass es während der ersten Welle keinen grossen Unterschied in der Zunahme des Stressniveaus zwischen städtischen und ländlichen Gebieten gab.»

Neben den persönlichen Lebensumständen und -bedingungen war ein weiterer Faktor, der sich auf die Erfahrungen der Befragten auswirkte, die Art der Aktivitäten, denen sie während des Lockdowns nachgingen. Bestimmte Aktivitäten erwiesen sich als wirksamer, um die psychische Belastung zu verringern. Diejenigen, die regelmässig Sport trieben oder mehr kochten, berichteten beispielsweise, dass sie weniger Stress empfanden als diejenigen, die die meiste Zeit vor dem Fernseher oder in den sozialen Medien verbrachten.

Gesättigte Wohnbereiche

Die zweite Studie, die in der Revue des politiques sociales et familiales erschienen ist, untersuchte die «Plastizität» des Wohnens, d.h. inwieweit die Befragten in der Lage sind, ihre Wohnräume an ihren eingeschränkten Lebensstil anzupassen. Anhand der Antworten aus den Kantonen Genf, Waadt und Wallis identifizierten die EPFL-Forschenden sechs Kategorien von Personen. Das eine Extrem waren die «Erschöpften», in der Regel Personen unter 44 Jahren, die während des Einschlusses von zu Hause aus arbeiteten und kleine Kinder hatten. Diese Personen mussten die meisten Anpassungen in ihren Wohnungen vornehmen, da das Leben auf engem Raum die Bewältigung ihrer beruflichen und familiären Verpflichtungen noch schwieriger machte. Sie berichteten, dass sie mit einer Vielzahl von Aufgaben zu kämpfen und das Gefühl hatten, dass ihre Wohnräume «gesättigt» waren, was die Ergebnisse einer Studie des Labors für Stadtsoziologie (LASUR) der EPFL aus dem Jahr 2020 bestätigte (siehe zusätzlichen Hinweis unten). Die Kategorie «erschöpft» bestand hauptsächlich aus Frauen (67 %) und Personen mit einem niedrigeren Bildungsniveau.

Bestehende Ungleichheit

Das andere Extrem waren die «Entspannten», d. h. Personen, die sich weder einsam fühlten noch mit einer übermässigen Arbeitsbelastung während des Shutdowns zu kämpfen hatten. Einige Befragte in dieser Kategorie berichteten sogar von besseren Arbeitsbedingungen als zuvor. Zu dieser Kategorie gehörten vor allem Menschen, die über 55 Jahre alt sind, männlich (55 %) und einen Hochschulabschluss haben; ausserdem lebten sie in der Regel in grossen Häusern mit Garten. «Unsere Studie hat gezeigt, dass ein höheres Bildungsniveau die Menschen vor der finanziellen Unsicherheit schützt, die in solchen Situationen entstehen kann», sagt Garance Clément, Postdoc am LASUR und Mitautorin der Studie, «und unterstreicht die Ungleichheit bei der Wohnsituation, die in unserer Gesellschaft bereits besteht.»

Die Forschenden fanden heraus, dass Studierende und ältere Menschen am stärksten unter der Einsamkeit während des Shutdowns litten, insbesondere Studierende in kleineren Wohnheimen ohne Aussenbereiche. Diese Studierenden machten 13 % der Kategorie «isoliert» und 17 % der Kategorie «erschöpft» aus, aber nur 9 % der Kategorie «entspannt».

«Unsere Ergebnisse sollten Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens, Architektinnen und Architekten sowie Bauträger dazu ermutigen, Wohnräume zu schaffen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und der Dynamik ihrer Bewohnenden gerecht werden, wie sie durch den Lockdown deutlich wurden.»      Anna Pagani, Forscherin bei HERUS

Ein neues Ideal

In einer Zeit, in der die meisten Funktionen einer Stadt auf die Wohnung des Einzelnen konzentriert sind, haben 60 % der Befragten ihre Vorstellung von ihrem idealen Zuhause geändert. Dies ist eine der Schlussfolgerungen der dritten Studie, die in Cities & Health veröffentlicht wurde. Sie ergab, dass Frauen, Personen mit einer hohen Belastung durch Hausarbeit und Personen, die auf kulturelle Aktivitäten verzichten mussten, mehr Wert darauf legten, «einen Ort zu finden, an dem sie sich ausdrücken und ihre Sehnsüchte befriedigen können», wobei die Forschenden diese Personen als «gefangene» Gruppe bezeichneten. Die «pragmatische» Gruppe – hauptsächlich alleinstehende Männer, Alleinlebende und Personen, die vorübergehend untergebracht sind (z. B. in einem Hotel oder im Haus eines Freundes) – wünschte sich dagegen eher ein Zuhause, das die grundlegenden Funktionen eines Ortes zum Essen, Schlafen und Arbeiten erfüllt.

Zimmer zur Miete und Balkone

Die Ergebnisse dieser Studien erfordern verschiedene Massnahmen: «Unsere Ergebnisse sollten Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens, Architektinnen und Architekten sowie Bauträger dazu ermutigen, Wohnräume zur Verfügung zu stellen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Dynamiken ihrer Bewohner gerecht werden, wie sie durch die Schliessung hervorgehoben wurden», sagt Anna Pagani, Doktorandin bei HERUS und Mitautorin von zwei der Studien: «Dazu könnte zum Beispiel gehören, dass in einem Gebäude Gemeinschaftsräume zugänglich gemacht werden, die gemeinsam oder individuell genutzt werden können – wie Werkstätten, Bibliotheken und Arbeitsräume. Solche Räume würden dazu beitragen, Konflikte zwischen Aktivitäten, die von Natur aus unvereinbar sind, zu verringern. Darüber hinaus könnten Aussenbereiche wie Balkone dem Bedürfnis nach sicherer Interaktion mit der Gemeinschaft Rechnung tragen und so die Einsamkeit verringern und das Wohlbefinden der Bewohnenden verbessern, die von sozialer und räumlicher Isolation bedroht sind.»

«Anders als wir zu Beginn des Lockdowns erwartet hatten, haben die Menschen ihren Lebensstil und ihre Lebensgewohnheiten nicht dramatisch verändert.»      Garance Clément, Postdoktorandin bei LaSUR

Besondere Berücksichtigung von Frauen und Studierenden

Die Forschenden betonen ausserdem, dass die Politik angesichts ihrer Ergebnisse bei künftigen Abriegelungen die Bedürfnisse von Studierenden und Frauen stärker berücksichtigen sollte: «Es ist Pflicht der Politik, darüber nachzudenken, was diese Gruppen in Zukunft brauchen werden, und die notwendigen Massnahmen zu ergreifen», sagt Fritz: «Dazu muss man berücksichtigen, wie unterschiedliche Menschen einen Lockdown erleben, und auf verschiedene Formen von Wissen und Expertise zurückgreifen.» Clément fügt hinzu: «Dies wird besonders wichtig sein, da die Menschen – anders als wir zu Beginn des Shutdowns erwartet hatten – ihren Lebensstil und ihre Lebensgewohnheiten nicht dramatisch verändert haben.» Pagani glaubt, dass die Pandemie, die sich nun hinzieht, eine Chance ist, die Art und Weise, wie Wohnungen gestaltet werden, nachhaltig zu verbessern. «Es ist eine Chance für uns, unsere Lebensräume zu überdenken – aber es wird noch eine Weile dauern, bis wir eine konkrete Veränderung in Wohngebäuden sehen, denn es gibt eine grosse Trägheit in der Bauindustrie.»

Zur Umfrage

Die Forschenden von LASUR und HERUS arbeiteten mit dem Forschungsinstitut Idiap und dem Institut für Psychologie der Universität Lausanne zusammen, um die Umfrage über soziale Medien und andere Kanäle auf Französisch, Deutsch, Italienisch und Englisch zu verbreiten. Die Umfrage lief vom 8. April bis zum 10. Mai 2020. Sie sollte einen tieferen Einblick in die Mechanismen geben, mit denen die Schweizer Bevölkerung auf den Shutdown reagiert hat (siehe EPFL-News vom 14. April 2020). Im September 2020 wurde ein vorläufiger Bericht über die Ergebnisse der Umfrage veröffentlicht, der einen ersten Einblick in die unterschiedlichen Erfahrungen der Befragten gibt und geschlechts- und wohnungsspezifische Diskrepanzen aufzeigt (siehe EPFL-News vom 2. September 2021). Diese drei Zeitschriftenartikel zeichnen ein detaillierteres Bild und vertiefen die Schlussfolgerungen der Umfrage.