Toxische Konzentrationen genau bestimmen

Ökotoxikologische Tests müssen äusserst genau sein – was Forschung und Praxis oft vor Herausforderungen stellt. Die Eawag hat nun ein Computermodell entwickelt, das noch genauere Tests bei hohem Durchsatz ermöglicht, einfach und breit anzuwenden ist und Ressourcen spart.
Von links nach rechts: Zellen einer Fischzelllinie (Foto: Matteo Minghetti), Algenzellen (Foto: Bettina Wagner) und Embryo des Zebrabärblings (Foto: Colette vom Berg). Diese Zellen/Organismen werden in Titerplatten Chemikalien ausgesetzt und toxikologisch untersucht. (Bild: Eawag)

Wie gefährlich sind Chemikalien, die in die Gewässer gelangen, für die aquatischen Lebewesen? Um diese Frage zu beantworten, braucht es unter anderem Tests an Organismen oder – immer häufiger – an isolierten Zellen, welche die Untersuchungen an Organismen ersetzen können. Das Wasserforschungsinstitut Eawag erforscht und entwickelt solche ökotoxikologischen Tests. Kristin Schirmer, Leiterin der Abteilung Umwelttoxikologie und Titularprofessorin an ETH Zürich und EPFL, erklärt: «Wir möchten sehr genau bestimmen können, bei welchen Konzentrationen einer Chemikalie welche Effekte auftreten.» Denn dies hat in der Praxis Einfluss auf die ökotoxikologische Bewertung der Chemikalie und kann somit auch in die politische Diskussion und in Zulassungsverfahren einfliessen.

Interpretation der Testergebnisse erschwert

Bisher standen Forschende auf der ganzen Welt jedoch vor einem Problem: Wenn für die Tests kleine Volumen verwendet werden – und das ist immer häufiger der Fall bei modernen, teils automatisierten Testverfahren– entspricht die verwendete Konzentration einer Chemikalie in den Probenträgern (den sogenannten Titerplatten) nicht mehr genau jener Konzentration, der die Zelle oder der Organismus im Versuch ausgesetzt ist. Das kann das Testergebnis verfälschen, das heisst, die Toxizität einer Chemikalie wird unter Umständen unterschätzt.

Wie ist das möglich? «Es gibt zum Beispiel sehr flüchtige Chemikalien, die während des Tests verdunsten. Oder andere, die an die Wand der Titerplatten binden und daher weniger für die Zellen verfügbar sind», erklärt Schirmer. Beide Effekte können sich in den kleinen Volumen verstärken – aufgrund ungünstiger Volumen-Oberflächenverhältnisse gepaart mit der geringen Menge an biologischem Material. Deswegen auf kleinskalige Tests zu verzichten, wäre gemäss Schirmer jedoch der falsche Weg, da die geringen Mengen an Chemikalie und die Möglichkeit, viele Testvarianten parallel zu untersuchen, effizient und ressourcenschonend sind.

Forschende behalfen sich deshalb bisher damit, die Konzentration während der Experimente zu messen. Das führte zwar zu genaueren Ergebnissen, verschlang aber auch Zeit, Material und Geld. «Vom Aufwand her ist das damit zu vergleichen, als würde man zugleich noch ein zweites Experiment durchführen», erklärt Schirmer. Das Ziel war daher klar: Einen Weg zu finden, um die effektiven Konzentrationen ohne zu messen genau vorherzusagen.

Ein Computermodell schafft Abhilfe

Ein Forscherteam um Julita Stadnicka-Michalak, einer ehemaligen Wissenschaftlerin in der Gruppe von Schirmer, hat nun eine elegante Lösung für diese Problematik entwickelt: Ein Computermodell erlaubt, genau vorherzusagen, welche Konzentrationen tatsächlich auf die Zellen einwirken werden – abhängig von der eingesetzten Chemikalie und den verwendeten Titerplatten. Die Tests gewinnen dadurch massiv an Attraktivität und Aussagekraft – ohne dass aufwändige Chemikalienmessungen durchgeführt werden müssen. Das Eawag-Modell wurde Ende Februar in der wissenschaftlichen Zeitschrift Scientific Reports aus dem renommierten Nature-Verlag erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Schirmer ist begeistert vom neuen Modell: «Anders als schon bestehende theoretische Modelle ist es präziser und einfacher anzuwenden. Man muss weniger Parameter kennen und einfüllen als bei den früheren Modellen. Das ist eigentlich phänomenal – und besser als ich erwartet hätte.»

Breites Anwendungsgebiet

Der Erfolg beruht auf empirischen Daten, welche die Forschenden in den letzten Jahren konsequent bei allen Experimenten gemessen und dokumentiert haben. Diese umfassenden Datenreihen nutzten sie dann zur Entwicklung des Computermodells, welches das Erste seiner Art ist. Validiert wurde das Modell anhand von Testreihen, mit denen die Forschenden zeigen konnten, dass die rechnerisch vorhergesagte Konzentration in der Titerplatte tatsächlich mit der effektiv gemessenen übereinstimmt.

Während Schirmer erwartet hatte, dass das Modell nur mit Fischzellen gut funktionieren würde, war sie selbst überrascht, wie gut und einfach es sich übertragen lässt – auf andere Zelltypen, wie Algen, oder den Embryo des Zebrabärbling als Testorganismus, aber auch auf zahlreiche Chemikalien und unterschiedliche Formate der Titerplatten. Das Team wird das Modell nun bei allen Tests einsetzen und weiter prüfen und entwickeln. Schirmer ist überzeugt, dass grosses Interesse auch bei anderen Forschungsgruppen besteht und dass das Anwendungsgebiet nicht auf die Grundlagenforschung beschränkt ist: «Im Rahmen unseres Spin-offs Aquatox-Solutions, planen wir zum Beispiel, das Modell demnächst auf industrielle Anwendungen zu übertragen.»
 

Originalpublikation

Stadnicka-Michalak, J.; Bramaz, N.; Schönenberger, R.; Schirmer, K. (2021) Predicting exposure concentrations of chemicals with a wide range of volatility and hydrophobicity in different multi-well plate set-upsScientific Reports, 11, 4860 (14 pp.), doi:10.1038/s41598-021-84109-9Institutional Repository