Wie Gräser Inzucht verhindern

Forschende der ETH Zürich konnten zeigen, welche Gene verhindern, dass sich Gräser selber befruchten. Pflanzenwissenschaftler:innen können den Mechanismus nun gezielter einsetzen, um neue Sorten von Futtergräsern aber auch von Reis oder Gerste zu züchten.
Gräser (Bild: Adobe Stock)

Mais, Reis, Weizen, Zuckerrohr – die Pflanzenfamilie der Süssgräser hat einige Vertreter hervorgebracht, die für den Menschen äusserst wichtige Nahrungsquellen sind und seit Jahrtausenden kultiviert und weitergezüchtet werden. Auch Wild- und Nutztiere hängen stark von Gräsern ab: Kühe, Schafe, Pferde, aber auch Bisons, Hirsche oder Zebras fressen vorwiegend Gras. In der Schweiz ist fast 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Grasland.

Natürlicher Mechanismus erschwert Züchtung

Doch die Züchtung von Gräsern ist von Natur aus schwierig: Wie viele andere Samenpflanzen auch haben Gräser im Laufe der Evolution einen Mechanismus entwickelt, der verhindert, dass sich ein Individuum selber befruchten kann. Selbstinkompatibilität nennen Fachleute diesen Mechanismus. Konkret sorgt dieser dafür, dass eigener Pollen oder solcher von nahverwandten Individuen nicht in den Fruchtknoten einer Pflanze einwachsen und dort die Eizellen befruchten kann. Dadurch wird Inzucht mit all ihren Begleiterscheinungen verhindert.

Für die Pflanzenzüchtung kann die Selbstinkompatibilität ein Nachteil sein. Sie erschwert nicht nur die Erstellung von reinerbigen Linien, sondern kann auch die Kreuzung zweier nah verwandter Individuen beeinträchtigen. Damit ist es schwieriger, Zuchtfortschritt für gewünschte Pflanzeneigenschaften mittels klassischer Kreuzung zu erzielen. Um jedoch verschiedene Strategien der Pflanzenzüchtung ausreizen zu können, sind genaue Kenntnisse zur Selbstinkompatibilität entscheidend.

Selbstinkompatibilitäts-Gene von Gräsern entziffert

Über die genetischen Grundlagen der Selbstinkompatibilität bei Gräsern ist nur wenig bekannt. In den 1960er Jahren zeigten Pflanzenwissenschaftler, dass es zwei Genorte (Loci) im Erbmaterial von Gräsern geben muss, die an der Selbstinkompatibilität beteiligt sind. Welche Gene es tatsächlich waren, konnten die Forschenden mit den damaligen Methoden nicht ermitteln.

Nun haben Forschende um Bruno Studer, Professor für Molekulare Pflanzenzüchtung, anhand des Englischen Raigrases (Lolium perenne L.) die für die Selbstinkompatibilität verantwortlichen Gene erstmals identifizieren und die Abfolge ihrer Bausteine (DNA-Basensequenz) bestimmen können. Das Englische Raigras ist eines der wichtigsten Futter- und Rasengräser weltweit.

«Den Durchbruch verdanken wir den Fortschritten bei Genomanalysen. Diese haben es uns erst in den vergangenen Jahren erlaubt, rasch und umfassend das gesamte Erbgut eines einzelnen Organismus zu sequenzieren.»      Bruno Studer

Studer hat über 15 Jahre zusammen mit Forschenden aus Dänemark, Wales und den USA an diesem Thema gearbeitet: 2006 fand er Gene, die den Samenertrag von Futtergräsern schmälerten. Gesucht hatte er das Gegenteil, nämlich Gene, die den Samenertrag steigern. Später entpuppten sich die gefundenen Gene als diejenigen, die bei der Selbstinkompatibilität eine Rolle spielen. 2017 gelang es seinem Team, die beiden Gen-Orte auf wenige Kandidaten-Gene einzugrenzen, und nun liefern Studer und seine Mitarbeitenden eine genaue Beschreibung der drei Gene, aus denen die Gen-Orte effektiv zusammengesetzt sind.

«Den Durchbruch verdanken wir den Fortschritten bei Genomanalysen. Diese haben es uns erst in den vergangenen Jahren erlaubt, rasch und umfassend das gesamte Erbgut eines einzelnen Organismus zu sequenzieren», betont Studer.

Die Erkenntnisse eröffnen neue Möglichkeiten für die Züchtung von Futtergräsern, aber auch von wichtigen selbstbestäubenden Grasnutzpflanzen des Menschen wie Reis oder Gerste. Kennt man die Gene der Selbstinkompatibilität, kann man diese gezielt beeinflussen. Entweder schaltet man sie aus, sodass Linienzüchtung von genetisch einheitlichen Pflanzen möglich wird. Oder man führt die Gene ins Genom von den Gräsern ein, die die Selbstinkompatibilität verloren haben, um genetisch vielfältige Populationen zu züchten. Für Bruno Studer ist klar: «Mit der Kenntnis dieser Gene haben wir eine wichtige Grundlage, um den Mechanismus zu kontrollieren und ihn für die Züchtung zu nutzen.»

Zusammenspiel zweier entfernt gelegener Loci

Die Selbstinkompatibilität bei Gräsern basiert im Wesentlichen auf dem Zusammenspiel der beiden Gen-Orte (dem S-Locus und dem Z-Locus), die auf unterschiedlichen Chromosomen liegen.

Die Gene sind der Bauplan für drei unterschiedliche Proteine, die eine Art Schlüssel-Schloss-Mechanismus aufbauen. Dieser erkennt, ob der Pollen, der auf das Narbengewebe gelangt ist, genetisch ähnlich oder fremd ist. Das löst ein entsprechendes Signal aus, welches den Befruchtungsvorgang vorzeitig abbricht oder fortsetzt und zu Ende führt.

Wie die Strukturen der beteiligten Proteine aussehen und wie diese zusammenspielen, um fremden von eigenem Pollen zu unterscheiden, erforschen die Pflanzenwissenschaftler:innen um Studer derzeit. Dafür nutzen die Forschenden spezielle Methoden der künstlichen Intelligenz, die aufgrund der Gensequenzen die Struktur der dazugehörigen Proteine berechnet, und Modelle, welche die Wechselwirkungen dieser Moleküle simulieren.

Einzigartiger Mechanismus in der Pflanzenevolution

Darüber hinaus untersuchten die Forschenden, wie Selbstinkompatibilität basierend auf zwei Gen-Orten in der Grasfamilie entstehen konnte. Bisher bekannte Mechanismen aus anderen Pflanzenfamilien beruhen nämlich lediglich auf einem Genort. So ist es wahrscheinlich, dass sich in der Entwicklungsgeschichte der Gräser der Z-Locus zunächst verdoppelte und sich die Kopie später diversifizierte, also durch zahlreiche Mutationen veränderte.

«Wir haben in der Zwischenzeit diese beiden Gen-Orte von sehr vielen Graspflanzen sequenziert. Wir sehen, dass der S-Locus tendenziell weniger Variationen aufweist und sich noch weiter diversifiziert, der Z-Locus hingegen verändert sich weniger stark. Daraus schliessen wir, dass der Z-Locus entwicklungsgeschichtlich älter sein könnte», erklärt Studer.

Im Stammbaum der Gräser haben die Forschenden zudem zurückverfolgt, wann die Locus-Verdoppelung aufgetreten ist und wann sich die Kulturgrasarten voneinander abtrennten. Sie konnten im Stammbaum auch erkennen, welche Gräser die Locus-Verdoppelung nicht mitgemacht haben und bei welchen Arten die Selbstinkompatibilität verloren ging, etwa durch Mutationen.

Was aber ist der evolutionäre Vorteil von Selbstinkompatibilität, welche auf zwei Gen-Orten beruht? «Auf den ersten Blick sieht es danach aus, dass sich dadurch in der Grasfamilie viel mehr Möglichkeiten und Flexibilität in der Erkennung von eigenem Pollen eröffneten», sagt der ETH-Professor. Dies könnte für die Grasfamilie wichtig sein: Sie ist mit 16'000 Arten, die auf allen Kontinenten verbreitet sind, eine der grössten und erfolgreichsten Pflanzenfamilien überhaupt.

Literaturhinweis

Rohner M, Manzanares C, Yates S, Thorogood D, Copetti D, Lübberstedt T, Asp T, Studer B: Fine-mapping and comparative genomic analysis reveal the gene composition at the S and Z self-incompatibility loci in grasses. Molecular Biology and Evolution, Volume 40, Issue 1, January 2023, msac259, DOI: 10.1093/molbev/msac259