Krankheiten an der Wurzel packen

Moderne Hochleistungsrechner und künstliche Intelligenz helfen dabei, die Ursachen von Krankheiten zu entschlüsseln. Das könnte dazu führen, Diagnosen und Therapien zu verbessern.
Mit modernen hochauflösenden Bildgebungsverfahren machen PSI-Forschende Aufnahmen von Zellkernen, lassen lernende Algorithmen diese Daten durchforsten und erkennen so zuverlässiger Anomalien, die medizinische Eingriffe nötig machen. (Grafik: Paul Scherrer Institut/Monika Blétry)

Wer mit Grossforschungsanlagen wie der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS oder dem Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL molekulare Strukturen untersucht, muss Unmengen an Daten verarbeiten. Die Vermessung eines einzigen Proteins produziert 250 Terabyte. Auf DVD-Rohlingen gespeichert und gestapelt ergäbe das einen Turm von der Höhe des Schiefen Turms von Pisa.

Bei der Erforschung des Zellskeletts werden eine ganze Reihe von Proteinen, Proteinkomplexen und anderen Biomolekülen vermessen, Bilder von ihren Strukturen gemacht, verglichen und molekulare Wechselwirkungen beobachtet. Um dabei voranzukommen und den Überblick zu behalten, sind moderne Formen der Datenanalyse auch unter Einsatz künstlicher Intelligenz unverzichtbar geworden. So setzt zum Beispiel G.V. Shivashankar, Leiter des PSI-Labors für Biologie im Nanobereich und Professor für Mechano-Genomik an der ETH Zürich, diese Methoden bei seiner Forschung ein.

Er untersucht unter anderem eine wichtige Eigenschaft des Zellskeletts: seine Steifheit. Mit dem Alter des Menschen wird das multifunktionelle Stützgerüst der Zelle weniger flexibel und seine Dynamik lässt nach. Das erleichtert Krankheitserregern ihr schädliches Werk. Sie können in weniger dynamischen Zellen besser in die Signalwege der Zelle eingreifen und sich leichter vermehren. «Womöglich ist dies ein Grund dafür, dass ältere Menschen bei einer Covid-19-Infektion mit höherer Wahrscheinlichkeit schwer erkranken», sagt der Forscher.

Das Zellskelett hat einen grossen Einfluss auf die Form des Zellkerns und darauf, wie gut das Erbgut in diesem gepackt ist. Ausgebreitet und aneinandergelegt wären die Molekülketten der DNA über einen Meter lang, sie sind jedoch so eng und geschickt zu einem Knäuel gewickelt, dass sie in den nur zehn Mikrometer winzigen Zellkern passen. Wird das Zellskelett nun steifer, funktioniert diese Verpackung nicht mehr optimal und die einzelnen Gene können nicht mehr so effektiv ausgelesen werden, um Proteine herzustellen, die der Körper beispielsweise für den Stoffwechsel oder die Signalübertragung benötigt.

Und an dieser Stelle könnte die moderne Bildgebung einen Durchbruch bringen: «Wir kennen bereits einige Hundert Wirkstoffe, die auf die Signalwege der Zelle abzielen», weiss Shivashankar. «Es ist nur unklar, welche Kombination und Dosis die Beste ist, um der Steifheit der Zellen und der entsprechend eingeschränkten Signalübertragung entgegenzuwirken.» Dies wolle sein Team herausfinden, indem es die Wirkstoffe Kulturen infizierter Zellen in der Petrischale zusetzt und dann in hoher Auflösung beobachtet, was geschieht. «Wir brauchen ein Screening aller bekannten Wirkstoff-Kandidaten. Und das PSI hat die notwendige Infrastruktur, so etwas durchzuführen – vor allem die SLS ist dafür sehr geeignet.»

Die Wurzel vieler Krankheiten

Diese Forschung erlangt unter anderem deshalb besondere Bedeutung, da man heute davon ausgeht, dass eine nicht normale Verpackung des Erbguts im Zellkern auch eine grosse Rolle für Krebs sowie neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer spielt. Shivashankars Labor arbeitet an einem Verfahren, das routinemässig Bilder von Zellkernen macht, um anhand verschiedener Merkmale zu bestimmen, wie die DNA gepackt ist. Dies lässt Voraussagen zu, welche Gene nicht abgelesen werden können, sodass gewisse Erkrankungen resultieren. Das wäre viel einfacher und günstiger, als die Gene auf Einzelebene zu sequenzieren, um zum gleichen Ergebnis zu kommen.

Die Herausforderung dabei: Die Merkmale, die es zu analysieren und zu vergleichen gilt, sind extrem vielfältig. Ohne leistungsfähige Computer und Algorithmen, die auf Tausenden Bildern Hunderte Merkmale vergleichen, wäre das nicht zu bewältigen. Die künstliche Intelligenz stellt zuverlässig feine Unterschiede in der Art der DNA-Verpackung fest und erkennt Zusammenhänge mit Fehlfunktionen der Zelle. Shivashankars Team kooperiert daher mit Fachleuten für maschinelles Lernen, einer Gruppe um Caroline Uhler, Professorin am amerikanischen Massachusetts Institute of Technology in Cambridge arbeitet. «Der Vorteil des Einsatzes von maschinellem Lernen besteht darin, dass wir damit neuartige Merkmale identifizieren können, die für den Menschen selbst möglicherweise nicht direkt interpretierbar sind, aber auf automatische Weise einen starken Hinweis auf die Gesundheit oder Krankheit von Zellen geben», sagt die Statistikerin.

Leistungsfähige Rechner unabdingbar

Die Fortschritte im maschinellen Lernen haben enorme Auswirkungen in allen Bereichen, in denen die Datenmengen geradezu explosionsartig anwachsen. Die Informationsmenge wird auch deshalb so gross, weil die Forschenden wirklich jede Zelle einzeln anschauen möchten, um Krankheiten zu identifizieren. «Selbst Zellen der gleichen Art können nämlich sehr verschieden strukturiert sein und sich dadurch unterschiedlich verhalten», sagt G.V. Shivashankar. «Es ist, als wolle man am Strand jedes einzelne Sandkorn anschauen und verstehen.» Mit immer mehr Beispielen gefüttert, lerne der Rechner mit der Zeit, welche Zellstruktur zu welchem Verhalten führt. Er erkennt Muster.

Am Ende könnte es so möglich werden, allein von dem hochauflösenden Bild eines Zellkerns als eine Art Biomarker Aussagen darüber zu treffen, wie gut die Zelle funktioniert, welche Erkrankungen der Betreffende hat oder erleiden könnte und welche Art der Therapie am erfolgversprechendsten ist. Frühzeitige, gezielte Eingriffe werden so denkbar. Die Methode wäre in jedem Fall eine enorme Erleichterung für die Diagnostik. «Um dieses enorme Potenzial des maschinellen Lernens für die biologische Entdeckung und medizinische Diagnostik auszuschöpfen, ist es allerdings von entscheidender Bedeutung, die identifizierten zytoskelettalen und nuklearen Biomarker im klinischen Umfeld sorgfältig zu bewerten», so Uhler.

Mit dem Zentrum für Protonentherapie am PSI untersucht Shivashankars Gruppe zudem, ob hochauflösende Bilder von Blutzellen, Zellskelett und Zellkern Hinweise liefern können, inwieweit eine Therapie anschlägt. «Wir vergleichen Aufnahmen von vor, während und nach der Behandlung der an Krebs Erkrankten und prüfen, ob die Veränderungen mit dem Fortschritt der Therapie korrelieren», sagt Shivashankar. Auch hier gilt es wieder, in einer riesigen Menge von Bilddaten mögliche Unregelmässigkeiten zuverlässig und schnell zu erkennen. «Wer bei solchen Aufgaben heutzutage noch ohne maschinelles Lernen arbeitet», so Shivashankar, «der verpasst den Zug.»