Erst Erholung, dann Stagnation: Der Zustand der Artenvielfalt in europäischen Gewässern

Ein Team mit Eawag-Beteiligung hat anhand wirbelloser Tiere die Entwicklung der Biodiversität in europäischen Binnengewässern im Fachjournal «Nature» vorgestellt.
Die biologische Vielfalt in Flusssystemen aus 22 europäischen Ländern ist über einen Zeitraum von 1968 bis 2020 deutlich angestiegen – seit den 2010er Jahren stagniert diese Entwicklung aber. (Foto: Senckenberg)

Auch wenn Eintags-, Stein-, und Köcherfliegen zu den Fluginsekten zählen – den Grossteil ihres Lebens verbringen sie als Larve im Wasser. «Diese und viele weitere wirbellose Tiere tragen zu wichtigen Ökosystemprozessen in Süssgewässern bei. Sie zersetzen organische Stoffe, filtern Wasser und transportieren Nährstoffe zwischen aquatischen und terrestrischen Bereichen. Darüber hinaus sind solche Invertebraten seit langem ein Eckpfeiler zur Überwachung der Wasserqualität», erläutert Erstautor der Studie, Prof. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt.

Binnengewässer sind durch die landwirtschaftliche und städtische Flächennutzung verschiedenen anthropogenen Belastungen ausgesetzt. Sie akkumulieren Schadstoffe, organisch belastete Abwässer, Feinsedimente und Pestizide und sind darüber hinaus durch Veränderungen, wie beispielsweise Dämme, Wasserentnahme, invasive Arten und den Klimawandel bedroht. Als Reaktion auf den schlechten Zustand der Gewässer in den 1950er und 1960er Jahren wurden zur Wiederherstellung von Süsswasserlebensräumen Gegenmassnahmen ergriffen. «In der Schweiz führten der flächendeckenden Einbau von Kläranlagen und die Ausfällung von Phosphor in Kläranlagen zu einem deutlichen Rückgang der organischen Verschmutzung ab etwa 1980», erklärt Florian Altermatt. Der Gruppenleiter am Wasserforschungsinstitut Eawag und Professor der Universität Zürich war als einziger Vertreter einer Schweizer Forschungsinstitution an der Studie beteiligt und hat Daten über die Schweizer Insektenvielfalt beigetragen.

In den letzten 50 Jahren haben diese Schritte zur Eindämmung der Abwasserbelastung und so zu den aufgezeigten Verbesserungen der biologischen Vielfalt im Süsswasser beigetragen. Dennoch nehmen die Anzahl und die Auswirkungen der Stressfaktoren, welche diese Ökosysteme bedrohen, weltweit weiter zu, und die biologische Qualität der Flüsse ist nach wie vor vielerorts unzureichend.  

Massnahmen sind ausgeschöpft – auch in der Schweiz

Gemeinsam mit einem grossen internationalen Team wurde ein umfassender Datensatz von 1816 Zeitreihen analysiert, die zwischen 1968 und 2020 in Flusssystemen in 22 europäischen Ländern gesammelt wurden und 714’698 Beobachtungen von 2’648 Arten aus 26’668 Proben umfassen. Die Auswertungen zeigen, dass ausgehend von tiefen Werten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl die Artenvielfalt mit 0,73 Prozent pro Jahr als auch die funktionelle Diversität mit jährlichen 2,4 Prozent und die Häufigkeit der Arten mit 1,17 Prozent im Jahr über den Zeitraum der 53 Jahre deutlich angestiegen ist.

«Diese Zuwächse traten jedoch hauptsächlich vor 2010 auf und haben sich seitdem leider auf einem mehr oder weniger gleichbleibenden Niveau eingependelt. Während die Zunahme der biologischen Vielfalt in den 1990er und 2000er Jahren wahrscheinlich die Wirksamkeit von Wasserqualitätsverbesserungen und Renaturierungsprojekten widerspiegelt, deutet die sich anschliessende stagnierende Entwicklung auf eine Erschöpfung der bisherigen Massnahmen hin», so Peter Haase.

Laut den Studienergebnissen erholten sich Süsswassergemeinschaften vor allem flussabwärts von Staudämmen, städtischen Gebieten und im Einflussgebiet von Ackerland weniger schnell. Die Fauna an Standorten mit schnellerer Erwärmung verzeichneten zudem geringere Zuwächse in der Artenvielfalt, der Häufigkeit der Individuen und der funktionellen Diversität.

«Die Gemeinschaften haben nicht mehr die Diversität erreicht, die sie ursprünglich hatten, und vor allem Arten frei fliessender grosser Flüsse sind europaweit ausgestorben oder stark gefährdet», sagt Florian Altermatt. «Wir schliessen daraus, dass ein Teil der Bemühungen zum Schutz der Biodiversität genützt hat, diese aber noch nicht ausreichend waren – zumal aktuell neue Herausforderungen bestehen, wie zum Beispiel der Klimawandel.»

Grundsätzlich gelten diese Erkenntnisse auch für die Schweiz, sagt er. «Es kann aber lokal schon auch andere Muster geben, zum Beispiel ist in der Schweiz die Landnutzung oft intensiver, was auf die Landwirtschaft und die Urbanisierung zurückzuführen ist.» Ein grosser Unterschied zu vielen anderen Ländern sind zudem die alpinen Gewässer, die zum Beispiel durch die Stromproduktion und die Klimaerwärmung stärker beeinflusst werden als Flüsse im Tiefland.  

Mögliche Handlungsoptionen

Das Forschungsteam empfiehlt unter anderem, die Einträge von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln aus landwirtschaftlichen Flächen zu reduzieren und grossräumige Auen- und Überschwemmungsbereiche zu schaffen – was auch eine Anpassung der Flusssysteme an künftige klimatische und hydrologische Bedingungen darstellt.

«Künftig sollte zudem die Überwachung der biologischen Vielfalt in Verbindung mit der parallelen Erhebung von Umweltdaten erfolgen. Nur so können wir die zeitlichen Veränderungen innerhalb der Artenvielfalt wirksam beschreiben, umweltbedingte Faktoren und stark gefährdete Gebiete ermitteln und den Schutz der biologischen Vielfalt maximieren», schliesst Haase.