Ein wichtiger Aspekt der Schizophrenieforschung in Frage gestellt

Mit der Analyse von EEG-Messungen bei fast zweihundert Schizophrenie-Patientinnen und -patienten sowie gesunden Kontrollpersonen stellen die Forschenden der EPFL nun das Standardparadigma der Forschung auf diesem Gebiet in Frage.
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Schizophrenie ist eine psychische Störung, die die Fähigkeit eines Menschen zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten beeinträchtigt und oft den Eindruck erweckt, er habe «den Bezug zur Realität verloren». Obwohl wir die genauen Ursachen der Schizophrenie nicht kennen, gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass sie durch eine Kombination aus Genetik, Umweltfaktoren und Problemen mit der Chemie und Struktur des Gehirns entsteht.

Dennoch konzentrieren sich die meisten Forschenden auf diesem Gebiet auf ein einziges Paradigma, das es ihnen ermöglicht, eindeutige Unterschiede zwischen Menschen mit Schizophreniesymptomen («Patientinnen und Patienten») und Menschen ohne diese Symptome («Kontrollen») festzustellen. Die Forschenden versuchen, die genetischen, neurophysiologischen und kognitiven Mechanismen aufzudecken, die den Anomalien von Schizophrenieerkrankten in diesem spezifischen Paradigma zugrunde liegen könnten. Dies ist ein so genannter tiefgreifender Ansatz zum Verständnis der Schizophrenie.

«In vielen experimentellen Paradigmen weisen die Unterschiede zwischen Patientinnen und Kontrollpersonen grosse Effektgrössen auf», sagt Professor Michael Herzog von der EPFL-Fakultät für Life Sciences, «dies zeigt, dass die Experimente wichtige Aspekte der Schizophrenie aufdecken, wirft aber auch zwei Fragen auf: Was haben diese Anomalien gemeinsam und wie repräsentativ sind sie für die Krankheit?»

«Über die Schizophrenieforschung hinaus zeigen unsere Ergebnisse, dass signifikante Gruppen- und Versuchsunterschiede möglicherweise viel weniger aussagen als gewöhnlich angenommen.»      Michael Herzog, Professor an der Fakultät für Life Sciences der EPFL

Ein in der Forschung häufig verwendetes Instrument ist das Elektroenzephalogramm – das berühmte EEG. Die Forschenden vergleichen die elektrische Aktivität des Gehirns zwischen Erkrankten und Kontrollpersonen. Bei diesem Ansatz werden in der Regel eindeutige Unterschiede zwischen den beiden Gruppen festgestellt, z. B. bei der Amplitude des EEG-Signals.

In einer neuen Studie haben Herzog und seine Gruppe das Standardparadigma in Frage gestellt, indem sie die Ruhezustands-EEGs von 121 Schizophreniepatientinnen und 75 Kontrollpersonen analysierten. Mithilfe mehrerer Signalverarbeitungsmethoden extrahierten die Forschenden insgesamt 194 EEG-Merkmale.

«Neunundsechzig der 194 EEG-Merkmale zeigten einen signifikanten Unterschied zwischen Patientinnen und Patienten sowie Kontrollpersonen, was darauf hindeutet, dass diese Merkmale einen wichtigen Aspekt der Schizophrenie erkennen», sagt Herzog, «aber überraschenderweise waren die Korrelationen zwischen diesen EEG-Merkmalen sehr gering.»

Es gibt keine einheitliche Interpretation für dieses beispiellose Ergebnis: «Eine Interpretation ist, dass alle EEG-Merkmale einen anderen Aspekt der Krankheit erfassen, was wirklich zeigt, wie heterogen die Schizophrenie ist», sagt Herzog.

In der Studie werden mehrere andere Erklärungen erörtert, und die Autoren schlagen vor, dass die Ergänzung der «tiefen» mit den «flachen» Ansätzen zum Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen der Erkrankung beitragen könnte: «Wenn die Krankheit wirklich heterogen ist, können wir uns nicht auf einzelne Paradigmen konzentrieren, sondern wir brauchen Testbatterien und komplexe Analysemethoden», sagt Dario Gordillo, Erstautor der Studie.

«Über die Schizophrenieforschung hinaus zeigen unsere Ergebnisse, dass signifikante Gruppen- und Versuchsunterschiede möglicherweise viel weniger aussagen, als man gemeinhin annimmt», sagt Herzog, «selbst signifikante Ergebnisse mit grossen Effektstärken sagen möglicherweise weniger aus, als die meisten Menschen glauben.»

Weitere Informationen

Weitere Mitwirkende

  • Universität von Lissabon
  • Staatliche Medizinische Universität Tiflis
  • Freie Universität von Tiflis
  • Beritaschwili Zentrum für experimentelle Biomedizin

Finanzierung

  • Stiftung für Wissenschaft und Technologie (Fundação para a Ciência e a Tecnologia)
  • NCCR Synapsy

Referenzen

Dario Gordillo, Janir Ramos da Cruz, Eka Chkonia, Wei-Hsiang Lin, Ophélie Favrod, Andreas Brand, Patrícia Figueiredo, Maya Roinishvili, Michael H. Herzog, The EEG multiverse of schizophrenia, Cerebral Cortex 27 August 2022