KI-gestütztes System kartiert Korallen in Rekordzeit

Ein an der EPFL entwickeltes System mit künstlicher Intelligenz kann in wenigen Minuten 3D-Karten von Korallenriffen aus Kamerabildern erstellen. Für Organisationen wie das Transnational Red Sea Center (TRSC) bedeutet dies einen grossen Fortschritt bei der Erforschung und Erhaltung der Unterwasserwelt.
Die Kameras sind an einer Struktur angebracht, die es ermöglicht, Daten von einer Vielzahl von Korallen zu erfassen. © LWimages

Korallen bilden oft eine farbenfrohe Kulisse für Fotos von schillernden Fischen, die von Hobbytaucherinnen und -tauchern aufgenommen werden. Aufgrund ihrer ökologischen Bedeutung stehen sie aber auch im Mittelpunkt des Interesses vieler Forschender. Korallen – wirbellose Meerestiere mit einem Exoskelett aus Kalziumkarbonat – gehören zu den vielfältigsten Ökosystemen der Erde: Obwohl sie weniger als 0,1 % der Meeresoberfläche bedecken, bieten sie Schutz und Lebensraum für fast ein Drittel der bekannten Meeresarten. Ihr Einfluss erstreckt sich auch auf die menschliche Bevölkerung in vielen Ländern der Welt. Nach Untersuchungen der U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration sind bis zu einer halben Milliarde Menschen weltweit von Korallenriffen abhängig, um ihre Ernährung zu sichern und ein Einkommen aus dem Tourismus zu erzielen.

Die Korallen sind jedoch durch steigende Meerestemperaturen und lokale anthropogene Verschmutzung bedroht, die zum Ausbleichen und Absterben der Korallen führen. Organisationen wie das Transnational Red Sea Center (TRSC) führen deshalb eingehende Studien durch, um die Geheimnisse der Korallenarten im Roten Meer zu lüften, die besonders widerstandsfähig gegen klimabedingten Stress sind. Diese von der EPFL geleitete Initiative (EPFL-Labor für biologische Geochemie und TRSC) diente als Testgebiet für DeepReefMap, ein KI-System, das am Environmental Computational Science and Earth Observation Laboratory (ECEO) der EPFL-Fakultät für für Bau, Architektur und Umwelt (ENAC) entwickelt wurde.

Das System ist in der Lage, aus Unterwasseraufnahmen handelsüblicher Kameras in wenigen Minuten mehrere hundert Meter lange 3D-Karten von Korallenriffen zu erstellen. «Mit diesem neuen System kann jede und jeder an der Kartierung der weltweiten Korallenriffe mitwirken», sagt TRSC-Projektkoordinator Samuel Gardaz, «es wird die Forschung in diesem Bereich wirklich ankurbeln, da es den Arbeitsaufwand, die Menge an Ausrüstung und Logistik sowie die IT-Kosten reduziert.» Die Forschungsergebnisse werden in einem heute in Methods in Ecology and Evolution erschienenen Artikel ausführlich beschrieben.

Lokale Taucherinnen und Taucher können leicht Daten erfassen

Die Erstellung eines 3D-Korallenriffs mit herkömmlichen Methoden ist nicht einfach: Die kostspieligen und rechenintensiven Rekonstruktionen basieren auf mehreren hundert Bildern desselben Riffabschnitts von sehr begrenzter Grösse (nur einige Dutzend Meter), die von vielen verschiedenen Referenzpunkten aus aufgenommen wurden und für deren Erstellung die Arbeit einer Spezialistin oder eines Spezialisten erforderlich ist. Diese Faktoren schränken die Anwendung dieser Methoden in Ländern, die nicht über das erforderliche technische Know-how verfügen, stark ein und verhindern die Überwachung grosser Riffabschnitte (Hunderte von Metern oder sogar Kilometer).

Devis Tuia, Professor am ECEO-Labor, während eines Tauchgangs in Dschibuti © LWimages

Mit dem an der EPFL entwickelten KI-System können nun auch Hobbytaucherinnen und -taucher Daten sammeln: Ausgestattet mit einer handelsüblichen Tauchausrüstung und einer handelsüblichen Kamera können sie mehrere hundert Meter langsam über ein Riff schwimmen und dabei Aufnahmen machen. Die einzigen Grenzen sind die Batterielebensdauer der Kamera und die Luftmenge in der Flasche. Um Bilder über einen grösseren Bereich aufzunehmen, haben die EPFL-Forschenden eine PVC-Struktur entwickelt, die sechs Kameras trägt – drei nach vorne und drei nach hinten gerichtete, die einen Meter voneinander entfernt sind – und von einer einzigen Person bedient werden kann. Das Gerät stellt eine kostengünstige Option für lokale Tauchteams dar, die oft nur über ein begrenztes Budget verfügen: «Eine echte Revolution in der Welt des Ökosystemschutzes», sagt Guilhem Banc-Prandi, Postdoktorand am Labor für biologische Geochemie der EPFL und wissenschaftlicher Leiter des TRSC.

Sobald das Filmmaterial hochgeladen ist, macht sich DeepReefMap an die Arbeit. Dieses schnelle und wendige System hat kein Problem mit der schlechten Beleuchtung, der Beugung und den kaustischen Effekten, die für Unterwasserbilder typisch sind, da tiefe neuronale Netze lernen, sich an diese Bedingungen anzupassen, die für Computer-Vision-Algorithmen suboptimal sind. Darüber hinaus haben bestehende 3D-Kartierungsprogramme mehrere Nachteile. Sie funktionieren nur unter präzisen Lichtverhältnissen und mit hochauflösenden Bildern zuverlässig. «Sie sind auch in Bezug auf den Massstab begrenzt: Bei einer Auflösung, bei der einzelne Korallen identifiziert werden können, sind die grössten 3D-Karten mehrere Meter lang, was eine enorme Verarbeitungszeit erfordert», erklärt Devis Tuia, Professor am ECEO. «Mit DeepReefMap sind wir nur durch die Zeit beschränkt, die der Taucher oder die Taucherin unter Wasser bleiben kann.»

«Unser Ziel war es, ein System zu entwickeln, das sich für Forschende vor Ort als nützlich erweist und schnell und weitläufig eingesetzt werden kann. Dschibuti zum Beispiel hat 400 km Küstenlinie.»      Jonathan Sauder

Kategorisierung der Korallen nach Gesundheit und Form

Die Forschenden erleichterten den Feldbiologinnen auch das Leben, indem sie semantische Segmentierungsalgorithmen einfügten, die Korallen nach zwei Merkmalen klassifizieren und quantifizieren können: Gesundheit – von farbenprächtig (was auf einen guten Gesundheitszustand hindeutet) bis weiss (was auf Bleiche hindeutet) und mit Algen bedeckt (was das Absterben anzeigt) – und Form, wobei eine international anerkannte Skala verwendet wird, um die in den flachen Riffen des Roten Meeres am häufigsten vorkommenden Korallentypen zu klassifizieren (verzweigt, Felsen, Platten und weich). «Unser Ziel war es, ein System zu entwickeln, das sich für Forschende vor Ort als nützlich erweist und schnell und weitläufig eingesetzt werden kann», sagt Jonathan Sauder, der im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Entwicklung von DeepReefMap mitgewirkt hat: «Dschibuti zum Beispiel hat 400 km Küstenlinie. Unsere Methode erfordert keine teure Hardware. Alles, was man braucht, ist ein Computer mit einem einfachen Grafikprozessor. Die semantische Segmentierung und die 3D-Rekonstruktion erfolgen in der gleichen Geschwindigkeit wie die Videowiedergabe.»

Auf dem Weg zu einem digitalen Zwilling des Riffs

«Das System ist so einfach zu implementieren, dass wir beobachten können, wie sich die Riffe im Laufe der Zeit verändern, um prioritäre Schutzgebiete zu identifizieren», sagt Guilhem Banc-Prandi, Postdoktorand am Labor für biologische Geochemie (LGB) der EPFL: «Harte Daten über die Fülle und den Gesundheitszustand der Korallen sind der Schlüssel zum Verständnis der zeitlichen Dynamik.» Die neue 3D-Kartierungstechnologie wird den Forschenden einen Ausgangspunkt bieten, um weitere Daten wie die Vielfalt und den Reichtum von Riffarten, die Populationsgenetik, das Anpassungspotenzial von Korallen an wärmere Gewässer und die lokale Verschmutzung von Riffen hinzuzufügen, was schliesslich zur Schaffung eines vollwertigen digitalen Zwillings führen könnte. DeepReefMap könnte auch in Mangroven und anderen Flachwasserhabitaten eingesetzt werden und als Leitfaden für die Erforschung tieferer mariner Ökosysteme dienen: «Die in unser KI-System eingebaute Rekonstruktionsfähigkeit könnte leicht in anderen Umgebungen eingesetzt werden, auch wenn es Zeit braucht, um die neuronalen Netze für die Klassifizierung von Arten in neuen Umgebungen zu trainieren», so Tuia.