Denken in anderen Zeiträumen

Eine Grossforschungsanlage wie die Europäische Spallationsquelle ESS zu planen und zu bauen, birgt ganz besondere Herausforderungen. Physiker Marc Janoschek erklärt, weshalb nur der, der sie meistert, Durchbrüche in der Forschung erreichen kann.
Marc Janoschek leitet das PSI-ESS-Projekt, welches zentrale Beiträge zu fünf Instrumenten an der Europäischen Spallationsquelle ESS liefert. Dazu gehört auch das Reflektometer ESTIA, welches das PSI komplett plant und baut. Hier steht er an einem Bauteil der Anlage. (Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)

Welche Bedeutung hat die Teilnahme an dem Projekt der Europäischen Spallationsquelle ESS im schwedischen Lund ganz generell?

Marc Janoschek: Das Projekt ist sowohl für das PSI als auch für die gesamte Schweiz von grossem Interesse. Am PSI betreiben wir mit der Schweizer Spallations-Neutronenquelle SINQ die nationale Neutronenquelle für die Schweiz, die aber auch von internationaler Bedeutung ist. Die SINQ ist eine kontinuierliche Neutronenquelle und insofern etwas Besonderes. Bei der Intensität des Neutronenstrahls liegen wir im weltweiten Vergleich im oberen Mittelfeld. Weltweit Spitze sind wir beispielsweise darin, alle produzierten Neutronen durch innovative Instrumentierung optimal zu nutzen, die von den internationalen Nutzern gewünschten Rahmenbedingungen wie hohe und tiefe Temperaturen, hohe Drücke und Magnetfelder für ihre Proben anzubieten und ein ideales Umfeld für die Experimente zu schaffen oder auch in der Fokussierung von Neutronenstrahlen auf die Proben. Da sind wir international als Kooperationspartner sehr gefragt. Durch die Beteiligung an der ESS sichern wir uns nun auch Zugang zu der weltweit stärksten Neutronenquelle, um einerseits unsere Expertise dort einzubringen und andererseits dort selbst Experimente durchführen zu können.

Das heisst also, dass die beiden Spallationsquellen SINQ und ESS nicht in Konkurrenz stehen?

Ganz im Gegenteil, sie ergänzen sich hervorragend. Wir sind an der Konstruktion vieler Strahllinien der ESS beteiligt und bauen dort auf Techniken und Verfahren auf, die an der SINQ entwickelt wurden, zum Beispiel bei ESTIA, Bifrost oder Odin. Forschende, die ein Projekt am PSI starten, können so viel leichter an der ESS weiterarbeiten, wenn sie eine stärkere Spallationsquelle benötigen. Davon profitieren vor allem Schweizer Forschende. Unsere Beteiligung macht das PSI aber auch als internationalen Kooperationspartner weiter konkurrenzfähig.

Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz nur noch den Status eines Drittlandes bei dem grossen Forschungsförderungsprogramm der EU «Horizon Europe» hat: Wie wichtig ist die Beteiligung am Projekt ESS für das PSI und die Schweizer Forschung?

Die Rückstufung der Schweiz auf den Drittland-Status hat auf dieses Projekt zwar keinen direkten Einfluss. Mittelbar aber schon, weil wir bei Projekten, die durch Horizon Europe finanziert werden, nicht mehr teilnehmen können, zumindest nicht als führende Institution. Das Projekt ESS zeigt aber auch eindrücklich, dass derart grosse Unterfangen kein einzelner Staat mehr selbst stemmen kann und wir die internationale Zusammenarbeit dringend benötigen. Insofern wäre es dringend angeraten, dass die Schweiz und die EU zu einem Modus der förderlichen Zusammenarbeit finden. Bei der ESS werden fünfzehn Instrumente gebaut, an fünf sind wir beteiligt, eines bauen wir ganz alleine. Das zeigt, dass das Schweizer Know-how gefragt ist.

Welche Erwartungen bezüglich neuer Erkenntnisse knüpfen Sie denn an das Projekt ESS?

Derzeit ist eine Herausforderung bei der Forschung mit Neutronen immer noch, dass wir vergleichsweise grosse Proben für unsere Experimente benötigen. Wenn wir aber neue Materialien für neue Anwendungen erforschen wollen, beispielsweise Materialien für Quantentechnologien, dann sind diese oft so klein, dass sie mit blossem Auge kaum erkennbar sind. Ähnlich verhält es sich auch bei der Untersuchung von Membranen oder Proteinen. Im Gegensatz zu Röntgenstrahlung reagieren Neutronen sehr empfindlich auf leichte Elemente wie Wasser- oder Kohlenstoff, was wertvolle strukturelle Informationen zum Verständnis von Krebs, neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder auch zur gezielten Arzneimittelabgabe liefert. Bei der Untersuchung von winzigen Proben haben wir zwar auch an der SINQ schon grosse Fortschritte erzielt, aber eine Spallationsquelle wie die ESS wird unsere Möglichkeiten noch enorm erweitern. Der grössere Neutronenfluss der ESS wird auch zeitaufgelöste Experimente zum Standard machen, wie wir sie bereits jetzt an der SINQ testen. Damit kann man beispielsweise den Transport von Wasserstoff und Lithium in Energiematerialien untersuchen. An ihr können wir Proben ausserdem unter erweiterten Rahmenbedingungen untersuchen, beispielsweise noch höherer Druck, sehr starke Magnetfelder, sehr tiefe oder auch hohe Temperaturen oder auch Kombinationen davon, was in vielen Forschungsthemen deutliche Fortschritte bringen wird.

Sie entwickeln also zunächst neue Methoden, was für sich genommen schon sehr langwierig ist. Die Ergebnisse kommen dann ja noch viel später. Wie ist das, wenn man an so langfristigen Projekten arbeitet?

Die Zeitspannen bei derartigen Grossprojekten sind nun einmal sehr gross. Daran ändert auch unsere schnelllebige Zeit nichts. Das ist aber auch genau die Herausforderung, die es so einzigartig macht, daran mitzuwirken. Wir müssen über Jahrzehnte im Voraus denken. Eine Anlage wie die ESS zu planen und zu bauen, dauert von der Idee bis zur vollständigen Realisierung fast zwanzig Jahre. Wenn die Instrumente die ersten Neutronen sehen, müssen auch noch Feinjustierungen vorgenommen werden, damit die Anlage ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten kann. Die grossen Erfolge und Durchbrüche kommen erst danach, aber – da bin ich sicher – sie werden kommen.