Exoskelett hilft, die Handfunktion wiederzuerlangen

In enger Zusammenarbeit mit Anwendenden und Therapeutinnen hat das EPFL-Spin-off Emovo Care ein leichtes und einfach zu befestigendes Hand-Exoskelett für Menschen entwickelt, die nach einem Schlaganfall oder Unfall nicht mehr in der Lage sind, Gegenstände zu greifen. Das Gerät wurde bereits in mehreren Krankenhäusern und Rehabilitationszentren erfolgreich getestet.
Die Vorrichtung kann mit einer kleinen Fernbedienung bedient werden. © 2022 Alain Herzog

Bei vielen unserer täglichen Aktivitäten sind die Greiffähigkeiten unserer Hände gefragt. Während gesunde Menschen nicht lange überlegen, wenn sie einen Löffel benutzen oder ein Glas anheben, sind diese Handlungen für jemanden, der nicht in der Lage ist, Dinge mit den Fingern zu greifen, fast unmöglich. Weltweit überleben jedes Jahr fast 12 Millionen Menschen einen Schlaganfall, und die Hälfte von ihnen kann dieHände nur noch eingeschränkt benutzen. In den letzten Jahren wurden verschiedene tragbare Robotersysteme und Mensch-Maschine-Schnittstellen entwickelt, um dieses Problem zu lösen, aber sie sind in der Regel zu komplex oder zu teuer für den täglichen Gebrauch.

Emovo Care hat nun ein Gerät entwickelt, das speziell darauf ausgerichtet ist, diese Hindernisse zu überwinden. Die Ingenieurinnen und Ingenieure des Start-ups haben Emovo Grasp mit Hilfe von behinderten Nutzenden über mehrere Jahre hinweg entwickelt und dann in mehreren Testrunden in Krankenhäusern und Rehabilitationszentren weiter verbessert. Vor kurzem erhielt das Unternehmen die europäische ISO-Zertifizierung, die für die Vermarktung seines Produkts als Medizinprodukt erforderlich ist.

Die Hand passt sich automatisch an

Der Begriff «Exoskelett» hat oft einen beängstigenden, futuristischen Beigeschmack. In den letzten Jahren sind diese Geräte jedoch immer kleiner geworden und können bald von denjenigen, die sie am dringendsten benötigen, regelmässig benutzt werden. Emovo Grasp besteht aus zwei patentierten, künstlichen Sehnen, die dünnen Kabeln ähneln und in eine Hülle eingefügt sind. Sie werden mit Hilfe von Silikonringen, die an jedem Finger angebracht werden, auf dem Handrücken befestigt. Der Motor und die Fernbedienung, mit der Benutzende die angewandte Kraft einstellen können, befinden sich in kleinen, separaten Gehäusen. Durch dieses Design werden die Handfläche und die Fingerspitzen entlastet, um den sensorischen Input zu maximieren.

Bei Aktivierung durch die oder den Benutzenden übt das Gerät einen leichten Druck auf den Zeige- und den Mittelfinger aus, so dass sie sich jeweils drehen und mit einem Objekt in Kontakt kommen. Die Hand passt ihren Griff auch bei unregelmässig geformten Objekten automatisch an, um eine möglichst natürliche Bewegung zu gewährleisten. Eine weitere Taste auf der Fernbedienung gibt den gegenteiligen Befehl, so dass die Kabel eine Zugkraft erzeugen, die die Finger dazu veranlasst, sich zu strecken und den Gegenstand loszulassen. Die künstlichen, bioinspirierten Sehnen ähneln dem natürlichen Muskel- und Sehnensystem der Hand: «Unser Design ermöglicht sowohl sanfte Bewegungen als auch einen starken Griff», sagt CEO Luca Randazzo, der diese Technologie während seiner Doktorarbeit und seines Postdocs an den EPFL Brain-Machine Interface and Biorobotics Laboratories entwickelt hat. Das Gerät selbst agiert nie selbstständig – Benutzende haben immer die Kontrolle, um zu vermeiden, dass sie oder er Dinge fallen lässt oder zum falschen Zeitpunkt zugreift.

«Die Patientinnen und Patienten können im Anschluss an ihre Standardbehandlung jeden Tag 15 Minuten länger trainieren oder das Gerät mit nach Hause nehmen, um ihre Rehabilitation fortzusetzen. Dieses Gerät ist sehr vielversprechend, denn Wiederholungen sind der Schlüssel zum Fortschritt.»      Anne-Lise Joray-Tendon, Physiotherapeutin im Centre Rencontres

«Wiederholung ist der Schlüssel zum Fortschritt»

Mehr als hundert Personen – Patientinnen, Therapeuten und Neurologinnen – haben im Rahmen von Längsschnittstudien und geführten Diskussionen während des Entwicklungsprozesses des Geräts Beiträge zu Emovo Grasp geliefert. In jüngster Zeit haben Neurologinnen und Therapeuten im Centre Rencontres de Courfaivre im Jura sowie in Italien und Österreich, wo derzeit rund 30 Patientinnen und Patienten mit Hirnverletzungen an einer klinischen Studie teilnehmen, seine Vorteile festgestellt. Anne-Lise Joray-Tendon, Physiotherapeutin am Centre Rencontres, sieht in dem Gerät einen grossen therapeutischen Nutzen: «Die Patientinnen und Patienten könnten im Anschluss an ihre Standardbehandlung jeden Tag 15 Minuten zusätzlich trainieren oder das Gerät mit nach Hause nehmen, um ihre Rehabilitation fortzusetzen. Dieses Gerät ist sehr vielversprechend, denn Wiederholungen sind der Schlüssel zum Fortschritt.»

Das Start-up ist nur ein kleiner Teil von Randazzos Mission: «Meine Schwester ist behindert, und ich war schon immer daran interessiert, einfache Geräte zu entwickeln, die den Menschen im Alltag helfen können», sagt er. Emovo Grasp ist nicht darauf ausgelegt, die volle Funktionsfähigkeit des Benutzenden wiederherzustellen, aber eine behinderte Person in die Lage zu versetzen, auch nur ein paar grundlegende Bewegungen auszuführen, ist oft schon eine kleine Revolution an sich.

«Ich weiss noch, wie ich dieses Gerät zum ersten Mal ausprobiert habe», sagt Balz Heusler, einer der ersten Nutzer, «am nächsten Tag konnte ich nach sieben Jahren völliger Bewegungslosigkeit meinen Zeigefinger ohne Hilfe zwei Millimeter bewegen – das war unglaublich.» Iselin Frøybu, Mitbegründer und COO von Emovo Care, fügt hinzu: «Wir sammeln noch Daten, um verlässliche Statistiken zu erstellen, aber die Patientinnen und Patienten berichten, dass sie nach den ersten paar Anwendungen das Gefühl haben, dass ihre Hand wieder Teil ihres Körpers ist, während sie sie früher einfach vernachlässigt haben.»

Ein Unternehmen für medizinische Geräte

Das Team von Emovo Care © 2022 Alain Herzog

«Wir sind jetzt ein anerkanntes Unternehmen für medizinische Geräte und nicht nur ein Team von Ingenieurinnen und Ingenieuren, die in ihrem Labor coole Sachen bauen», sagt Randazzo mit einem Lächeln. Das Unternehmen hat sich bemüht, die Kosten für Emovo Grasp niedrig zu halten, um es mehr Menschen zugänglich zu machen, und sie haben es so benutzerfreundlich gestaltet, dass die Patientinnen und Patienten es selbst bedienen können.

Emovo Care wird sein Gerät Kliniken und Forschungseinrichtungen zur Verfügung stellen, die an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Das Unternehmen sammelt derzeit Geldmittel, um im nächsten Jahr auf den Markt zu kommen. Danach wollen sie ihre Erfindung weiterentwickeln: «Wir wollen zum Beispiel eine Anwendung integrieren, die Daten sammelt, um den Patientinnen und Patienten zu zeigen, wo sie sich im Rehabilitationsprozess befinden», sagt Randazzo, «und wir wollen intuitivere Steuerungsfunktionen hinzufügen, wie zum Beispiel die Interpretation der Absicht der Person durch Gehirn- oder Muskelsignale.»