Mehr Mädchen in MINT-Fächern – aber wie?

Der Bundesrat hat den ETH-Bereich beauftragt, den Anteil der Frauen in den Naturwissenschaften zu steigern. Bloss: Wie soll das gehen?
EPFL-Digitaltag: 13- bis 15-jährige Mädchen programmieren in einem Workshop Smartphone-Applikationen. (Foto: Murielle Gerber / EPFL)

«Versetzen Sie sich doch mal in die Lage einer Gymnasiastin», sagt Ralph Schumacher vom MINT-Lernzentrum der ETH Zürich. «Nennen wir sie Salomé. Sie ist eine kluge junge Frau mit vielen Optionen. Und sie hat typischerweise bessere sprachliche Fähigkeiten als ihre männlichen Mitschüler. Warum soll Salomé ihre Energie nun ausgerechnet in Physik investieren, wo doch auch Deutsch, Englisch oder Geschichte interessant sind?»

Unter den Studierenden der beiden ETH stellen junge Frauen gerade mal einen Drittel. Ihr Anteil steigt, aber nur langsam. Bei den Professuren ist die Entwicklung dynamischer, allerdings auf einem viel tieferen Niveau. Und das alles, obwohl eigentlich alle, vom Bundesrat über den ETH-Rat bis zu den Institutionen, gerne mehr Frauen hätten. Wie sich diese für die MINT-Fächer begeistern lassen, untersucht Schumacher gemeinsam mit Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, seit 2011 in der Schweizer MINT-Studie, einer Längsschnittstudie mit über 17 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

Kinder früh erreichen

«Es beginnt bereits in der Primarschule», sagt er, «hier zeigen sich noch kaum Unterschiede zwischen Buben und Mädchen. Umso wichtiger ist es, den Kindern schon hier Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Damit zum Beispiel die kleine Leonie weiss, dass sie ein Talent für mathematisches Denken hat. Und damit sie weiss, dass sie das auch interessiert.» Die Kinder früh zu erreichen ist für die Interessensentwicklung entscheidend, denn in der Pubertät werden Jungs und Mädchen mit starken Geschlechterstereotypen konfrontiert, in welchen Fächern sie angeblich gut sind oder nicht.

«Dabei geht es darum, dass man zunächst ein gutes Verständnis der Grundkonzepte wie Kraft und Masse aufbaut.»      Ralph Schumacher

Im Rahmen der MINT-Studie erhalten Schülerinnen und Schüler daher ab der Primarschule optimierten Physikunterricht, etwa zum Archimedischen Prinzip. Dies, um sie für physikalische Themen zu interessieren und Vorwissen aufzubauen. Für den Gymnasialunterricht haben Schumacher und sein Team Einheiten zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen, etwa zur Mechanik, ausgearbeitet. «Dabei geht es darum, dass man zunächst ein gutes Verständnis der Grundkonzepte wie Kraft und Masse aufbaut. Haben sie diese wirklich verstanden, dann fällt es den Jugendlichen auch leichter, Formeln nachzuvollziehen und anzuwenden.»

Ein Unterricht also speziell für Mädchen? «Nein», winkt Elsbeth Stern ab, «es zeigt sich, dass von diesem Unterricht nicht nur die Mädchen profitieren, sondern auch die Jungs.»

Sommerschulen und Seitenwechsel

Die ETH Zürich bietet für interessierte Jugendliche Summer-Schools, Besuchstage, Workshops und vieles mehr. Dasselbe tut auch die EPFL. Mehr noch: Sie betreibt ein eigenes Programm, um Mädchen im MINT-Bereich zu fördern. Dieses umfasst ausserschulische Ateliers und Camps und wird in den Westschweizer, den zweisprachigen, sowie den Kantonen Basel-Stadt und Schaffhausen durchgeführt. 2500 Schülerinnen beschäftigen sich so jedes Jahr mit Robotik, Programmieren oder Mathematik.

Willkommen sind Schülerinnen und Schüler aber auch an den anderen Institutionen des ETH-Bereichs, dem PSI, der WSL, der Empa und der Eawag. Diese führen regelmässig Führungen für Schulklassen durch, veranstalten Sommercamps und beteiligen sich am «Seitenwechsel», dem jährlichen Zukunftstag, an dem Kinder typische Berufe des jeweils anderen Geschlechts kennenlernen. Vielfach setzen die Institutionen dabei auf geschlechtergetrennten Unterricht, der gerade von den Mädchen geschätzt wird. Er reduziert das, was die Psychologie als «Bedrohung durch das Stereotyp» bezeichnet: Den Stress, der entsteht, wenn man unter Beobachtung etwas tun muss, das man angeblich nicht kann.

Vorbilder und Rollenmodelle

Wichtig ist aber auch, wem die Kinder und Jugendlichen begegnen, wenn sie erstmals mit den Naturwissenschaften in Kontakt kommen. Sind hier nur Männer zugegen, können sich Leonie oder Salomé viel weniger vorstellen, selbst einmal in so einem Betrieb zu arbeiten – und wählen auch kaum ein Studium im MINT-Bereich.

Für Patricia Nitzsche von der Empa beginnt es deshalb bereits bei den Lernenden. «Wir bilden unter anderem Laborantinnen, Informatikerinnen oder Konstrukteure aus. Die Lernenden führen dann oft Kinder und Jugendliche durch den Betrieb. Deshalb achten wir sehr darauf, auch möglichst viele Mädchen auszubilden, obwohl wir von Jungs sehr viel mehr Bewerbungen erhalten.» Demnächst werde man zudem eine Social-Media-Kampagne starten, um Forscherinnen der Empa vermehrt in den Fokus zu rücken.

«Sie suchen nicht nur eine spannende Arbeit, sondern auch eine sinnvolle.»      Elsbeth Stern

Auch das Paul Scherrer Institut (PSI) zeige den Schülerinnen und Schülern bewusst, dass Männer und Frauen zusammenarbeiten, erklärt Melina Spycher von der PSI-Fachstelle Diversität & Inklusion. «Um die Forscherinnen besser sichtbar zu machen, haben wir 2020 eine Plakatkampagne an den grösseren Aargauer Bahnhöfen durchgeführt. Auf den Plakaten erklären Wissenschaftlerinnen, Technikerinnen und Ingenieurinnen des PSI, warum sie sich für die naturwissenschaftliche Forschung entschieden haben.»

Dieselbe Idee hat die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) digital umgesetzt. «Wir haben Youtube-Videos produziert, in denen Forscherinnen erklären, was sie an ihrer Arbeit lieben», sagt Urte Reckowsky, Koordinatorin für Diversität und Inklusion an der WSL. «Ausserdem betreiben wir eine auf Kinder ausgerichtet Website – WSL Junior – die sehr gendergerecht ist, auch in der Bildsprache.»

Vom Sinn der Arbeit

Frauen wie Salomé steht die Welt offen. «Sie suchen nicht nur eine spannende Arbeit, sondern auch eine sinnvolle», erklärt Elsbeth Stern. Das ist einer der Gründe, weshalb die Frauen inzwischen beispielsweise im Medizinstudium in der Mehrheit sind. «Auch in der Biologie oder den Umweltwissenschaften müssen wir aufpassen, dass wir die Männer nicht verlieren.»

Ob beim Eiskernbohren auf einem Gletscher, beim Brücken bauen aus Holz oder beim Programmieren einer App am Computer: Für Mädchen und Jungs gibt es heute viele Angebote, um mit den Naturwissenschaften in Kontakt zu kommen. Und die Forschenden betreiben die Nachwuchsförderung mit viel Elan. Was ihre Bemühungen bringen, wird sich naturgemäss erst in einigen Jahren zeigen. Wenn Salomé und Leonie sich – hoffentlich – für ein Studium, einen Master, eine Dissertation in einem MINT-Fach entschieden haben.