Ungewissheit beflügelt den wissenschaftlichen Fortschritt

EPFL-Sommerserie: Wie Wissenschaft funktioniert. Öffentlichkeit und Forschende haben zwei sehr unterschiedliche Arten zu argumentieren. Während die Bürgerinnen und Bürger in der Gewissheit Trost finden, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Fakten ständig hinterfragen. Ist es möglich, dass diese beiden Gruppen eine gemeinsame Basis finden?
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Forschung ist von Natur aus ein dynamischer Prozess. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beginnen mit einer Beobachtung, stellen eine Hypothese auf, testen die Hypothese durch Experimente, analysieren die Ergebnisse und ziehen eine Schlussfolgerung. Aber meistens wirft diese Schlussfolgerung neue Fragen auf, die zu weiteren Beobachtungen, neuen Hypothesen, weiteren Experimenten und so weiter führen.

Diese Fähigkeit, Ungewissheit zu akzeptieren und sie zu nutzen, um weiterzukommen, ist eine der Stärken der wissenschaftlichen Forschung. Forschende betrachten die Ungewissheit als eine Möglichkeit, zu messen, wie genau sie ein Phänomen beschreiben können. Indem sie die Ungewissheit in ihren Forschungsprozess einbeziehen, können sie den Schlussfolgerungen, die sie z. B. aus einem Experiment, einem Pilotversuch oder einer klinischen Studie ziehen, mehr Vertrauen schenken. Das hilft ihnen auch zu erkennen, welche Variablen untersucht werden müssen, um ihre Ergebnisse zu verbessern. Ungewissheit bringt also viele Vorteile mit sich. Ausserdem treibt sie die Forschenden in einem iterativen Prozess an und bringt sie immer näher an genaue Theorien über die Welt um uns herum.

Dieses Thema wird in der Podcast-Reihe «Are you sure?» des College der Geistes- und Sozialwissenschaften (CDH) der EPFL eingehend behandelt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des CDH sprechen darüber, wie sie Zweifel und Unsicherheit in ihre Arbeit einbeziehen. Für sie alle ist diese gesunde Skepsis ein entscheidender Anreiz, um ihre Forschung voranzutreiben und ihre Zweifel zu besänftigen – wohl wissend, dass immer ein gewisses Element des Zweifels bleiben wird. Es ist ein Prozess, bei dem man versucht, ein Ziel zu erreichen, das sich immer weiter entfernt.

Der Genetiker Denis Duboule, einer der Podcaster, ist der Meinung, dass er nicht auf der Suche nach der Wahrheit ist, sondern nach «verschiedenen Elementen der Wahrheit, die, wenn sie wie Punkte aneinandergereiht werden, eine Richtung angeben und ein klareres Bild von dem vermitteln, was vor sich geht», und dieses Bild werde dann durch weitere Forschung verfeinert. Assyr Abdulle, ein weiterer Podcaster und Professor für Mathematik, erklärt, dass Zweifel und Irrtümer in seiner Forschung immer präsent sind, auch wenn sein Fachgebiet oft als eines mit den klarsten Richtig-oder-Falsch-Antworten wahrgenommen wird: «In der Tat ist Kreativität in der Mathematik sehr wichtig», sagt er: «Man beginnt mit Verwirrung über ein bestimmtes Problem, dann arbeitet man es aus und erhält etwas Klarheit, aber dann geht man einen Schritt zurück und die Verwirrung kehrt zurück.» Henrik Ronnow, ein Experte für Quantenmagnetismus, sagt in seinem Podcast, dass die Forschung an der Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten angesiedelt sei und dass es die Aufgabe der Wissenschaftler sei, alles zu tun, um das Bekannte zu erweitern. «Aus dieser Perspektive lautet die Frage nicht ‹Sind wir uns sicher, was wir gefunden haben?›󠅒, sondern eher ‹Was wissen wir noch nicht?›󠅒», sagt er. «Über das nachzudenken, was man nicht weiss, ist ein viel interessanterer Ansatz. Man wird nie mit hundertprozentiger Sicherheit beweisen können, dass eine bestimmte Theorie richtig ist, aber man kann beweisen, dass eine Theorie falsch ist. Wir als Forschende können sagen: ‹Meine Erkenntnisse beschreiben die Ergebnisse von Experimenten, die derzeit möglich sind.›󠅒»

Eine kommunikative Herausforderung

Diese ständige Ungewissheit im Forschungsprozess ist einer der Gründe, warum die Vermittlung von Wissenschaft an die Öffentlichkeit so schwierig ist. Bürgerinnen und Bürger brauchen stabile Fakten, damit sie ihnen vertrauen können. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse entwickeln sich ständig weiter. Es ist völlig normal, dass Forschende Vorbehalte gegenüber ihren Urteilen und Meinungen äussern, dass sie warten, bis eine Hypothese gründlich getestet wurde, bevor sie sie weitergeben, und dass sie zögern, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die wissenschaftliche Gemeinschaft baut langsam einen Konsens auf, wenn die Ergebnisse von der grossen Mehrheit ihrer Mitglieder akzeptiert werden. Das Wissen über die Welt, die uns umgibt, wächst stetig mit der Anhäufung von Beweisen.

Ein Teil der Schwierigkeiten, die die Öffentlichkeit mit dem Verständnis der Wissenschaft hat, könnte auch auf den Kanal zurückzuführen sein, über den die Wissenschaft vermittelt wird. Zeitungen sind ein wichtiger Verbündeter in der Wissenschaftskommunikation. Da die Schreibenden jedoch mit knappen Fristen und Platzmangel zu kämpfen haben, müssen sie sich auf einfache, aufmerksamkeitsstarke Fakten konzentrieren. Forschende bevorzugen im Allgemeinen nicht diesen reduzierten Ansatz, weil sie es für wichtig halten, die verschiedenen und komplizierten Aspekte eines Problems zu erklären. Zu sehr zu vereinfachen oder etwas als wahr oder falsch darzustellen, widerspricht dem methodischen Ansatz und der Unsicherheit, die dem Forschungsprozess innewohnt. Es könnte sogar die Hauptaussage der Forschungsarbeit verzerren.

Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus der Tendenz mancher Forschender, fälschlicherweise zu glauben, dass Bürgerinnen und Bürger die Schlussfolgerungen einer Forschung nicht akzeptieren, weil ihnen die wissenschaftlichen Kenntnisse fehlen. Diese Forschenden glauben daher, dass die Lösung darin besteht, der Öffentlichkeit eine Liste von Fakten vorzulegen. Dabei wird jedoch übersehen, dass viele andere Faktoren eine Rolle spielen, wenn es darum geht, ob die Öffentlichkeit neue Entdeckungen akzeptiert und der wissenschaftlichen Gemeinschaft vertraut; zu diesen Faktoren gehören das Bildungsniveau, der soziale und wirtschaftliche Hintergrund sowie persönliche und religiöse Überzeugungen, um nur einige zu nennen. Wenn Bürgerinnen und Bürger aufgefordert werden, die Feinheiten des Forschungsprozesses zu akzeptieren, dann sollten die Forschenden versuchen, das breite Spektrum der Standpunkte und Perspektiven der Öffentlichkeit, die sie zu erreichen versucht, zu verstehen.

Eine gemeinsame Basis finden

Was kann helfen, die Kommunikationslücke zu schliessen? Zunächst ist es wichtig, Konzepte zu erklären und Daten in einer Sprache zu präsentieren, die die Bürgerinnen und Bürger verstehen: «Das ist keine leichte Aufgabe», sagt Ursula Oesterle, Vizepräsidentin für Innovation der EPFL, «Forschende müssen prüfen, ob ihre Aussagen einfach und verständlich sind, aber dennoch korrekt und auf gesicherten Fakten beruhen.» Laut Oesterle könnte eine Idee darin bestehen, Forschenden dabei zu helfen, ihre Entdeckungen in Schlüsselbotschaften zu übersetzen, die leicht verständlich sind und eine höhere Chance haben, gut aufgenommen zu werden.

Das ist im Wesentlichen die Aufgabe von Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten. Ihre Arbeit kann mit Initiativen kombiniert werden, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft und ihr Verständnis für deren Funktionsweise stärken, sowie mit Programmen zur Schulung von Forschenden über die Funktionsweise der politischen Institutionen ihrer Länder (nach dem Vorbild des Franxini-Projekts der Denkfabrik Reatch). Durch verbesserte Kommunikation und gemeinsame Anstrengungen können Öffentlichkeit und Wissenschaft mehr Offenheit und Transparenz erreichen und ein besseres Verständnis für die Arbeitsweise der jeweils anderen Gruppe entwickeln.

COVID-19 und der Klimawandel haben die Landschaft verändert

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist alles andere als statisch. Es verändert sich je nach den neuen Herausforderungen, denen sich die Forschenden stellen müssen. So hat beispielsweise die COVID-19-Pandemie die Menschen dazu veranlasst, über die Rolle nachzudenken, die Forschende und die wissenschaftliche Forschung in Diskussionen über gesellschaftliche Fragen* spielen sollten. Die Reaktion auf COVID-19 hat gezeigt, dass Forschende, wenn sie eng mit politischen Entscheidungstragenden zusammenarbeiten können und über die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen verfügen, rasch Lösungen für dringende Probleme finden können.

Was ist mit dem Klimawandel? Wie sollte die öffentliche, soziale und wirtschaftliche Politik auf die Alarmglocken reagieren, die Forschende mit zunehmender Dringlichkeit läuten?** Das Ausmass des Klimawandels, die vielen verschiedenen Formen, die seine Auswirkungen annehmen könnten, sein extrem langer Zeithorizont und die Tatsache, dass er unumkehrbar wird, sobald bestimmte Schwellenwerte erreicht sind, konfrontieren die Gesellschaft mit einem noch nie dagewesenen Problem und stellen unsere traditionellen Entscheidungsprozesse in Frage.

«Die Notwendigkeit, dringend auf den Klimawandel zu reagieren, ist gegeben, aber anders als bei der Pandemie spüren wir diese Notwendigkeit im Alltag nicht so stark», sagt Michael Lehning, Professor am Laboratorium für Kryosphärenwissenschaften der EPFL, «in unserer Vorstellung und Wahrnehmung als Menschen scheint sich das Klima nicht oder nur sehr langsam zu verändern. Doch in Wirklichkeit vollzieht sich der Wandel in der Zeitskala der gesamten Geschichte unseres Planeten in einem extrem schnellen Tempo. Das ist kontraintuitiv und macht es schwer, der Gesellschaft oder politischen Entscheidungstragenden ein Gefühl der Dringlichkeit zu vermitteln. Unter dem Eindruck einiger extremer Wetter- oder Naturereignisse mag die Dringlichkeit von den Medien dargestellt und von einem Teil der Bevölkerung wahrgenommen werden, verschwindet aber schnell wieder aus unserem täglichen Leben.»

Während Forschende unmissverständlich erklären, dass der Klimawandel real ist und durch menschliche Aktivitäten verursacht wird, sind viele Laien nicht überzeugt, was zum Teil auf die allzu abstrakte Natur des wissenschaftlichen Diskurses zurückzuführen ist.

Raum für Zweifel lassen

Letztlich geht es darum, umsichtig zu handeln: auf der Grundlage erkannter Risiken frühzeitig die richtigen Vorkehrungen zu treffen, unabhängig davon, ob es einen Spielraum für Fehler gibt oder die Gefahr möglicherweise falsch eingeschätzt wird. Mit der Pandemie und – in grösserem Massstab, aus der Perspektive des menschlichen Lebens – mit dem Klimawandel treten wir vielleicht in eine neue Ära ein, in der gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entscheidungen zunehmend unter dem Gesichtspunkt des umsichtigen Handelns getroffen werden. Zumal der Konsens unter den Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft breit ist. Die Chemikerin Wendy Queen, eine der Sprecherinnen des Podcasts «Are you sure?» und Expertin für Umweltfragen, ist der Ansicht, dass der beste Weg, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft zu stärken – oder zumindest ihre Zweifel zu zerstreuen – darin besteht, Probleme aus vielen verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Hintergründen zu betrachten und eine Reihe von Lösungen anzubieten, die auf einem interdisziplinären, gemeinschaftlichen Ansatz beruhen.

«Nicht der Zweifel, sondern die Gewissheit treibt den Menschen in den Wahnsinn», warnte Nietzsche, und Dorian Astor, Philosoph und Germanist (insbesondere Nietzsche), fügte in einer Radiosendung von France Culture im Jahr 2019*** hinzu: «Die Gewissheit ist zweifellos die grösste Gefahr für das menschliche Denken.» Liegt das vielleicht daran, dass Gewissheit einfach unmöglich zu erlangen ist? Sind wir vielleicht auf dem falschen Weg, wenn wir von Forschenden verlangen, dass sie Behauptungen und Schlussfolgerungen mit hundertprozentiger Sicherheit aufstellen? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Wissenschaft – trotz der ihr innewohnenden Ungewissheit – immer noch der Bereich ist, dessen oberstes Ziel es ist, die Realität der Welt um uns herum besser zu verstehen.