Die Physik von Schneebrettlawinen ähnelt derjenigen von Erdbeben

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der EPFL und des WSL Instituts für Schnee- und Lawinenforschung, SLF, haben tiefere Einblicke in die Entstehung von Schneebrettlawinen gewonnen und damit den Weg für eine wirksamere Risikobewertung dieser katastrophalen Ereignisse geebnet, die jedes Jahr mehr Lawinenunfälle und Todesopfer fordern als jede andere Lawinenart.
Snowboarder Mathieu Schaer entkommt nur knapp einer Schneebrettlawine. (© Ruedi Flück)

Das Team von Forschenden der EPFL und des SLF hat eine Entdeckung gemacht, die einen Paradigmenwechsel darstellt und ihre Forschungsnische erheblich beeinflussen könnte. Indem sie den Massstab für die Simulationen von Schneebrettlawinen von einem auf hundert Meter ausdehnten, erhielten sie ein besseres Verständnis für die Mechanismen, die diesen Ereignissen zugrunde liegen. Ihre Entdeckung veranschaulicht auch die Vorteile, die Fortschritte bei der Computerleistung für die Methoden zur Beobachtung komplexer physikalischer Phänomene mit sich bringen können. Die Ergebnisse des Teams werden in Nature Physics veröffentlicht.

Ihre Arbeit baut auf einer Studie von EPFL-Professor Johan Gaume und Forschenden der University of California in Los Angeles aus dem Jahr 2018 auf. Diese erste Studie, die in Nature Communications veröffentlicht wurde, beschreibt eine 3D-Simulationsmethode, die die Forschenden entwickelt haben, um Schneebrettlawinen mit bisher unerreichter Präzision zu modellieren. Heute ist Gaume Leiter des Labors für Schnee- und Lawinensimulation (SLAB) der EPFL, das zur Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen (ENAC) gehört und dem SLF-Institut angegliedert ist. Er und sein Doktorand Bertil Trottet haben die Studie in einem grösseren Massstab weitergeführt und dabei eine überraschende Entdeckung gemacht. Sie fanden heraus, dass sich die Art und Weise, wie sich Risse ausbreiten, während des Ablösungsprozesses der Plattenlawine ändert. So beobachteten sie beispielsweise Rissausbreitungsgeschwindigkeiten von über 100 Metern pro Sekunde, was weit über den Geschwindigkeiten von etwa 30 Metern pro Sekunde liegt, die normalerweise in Experimenten gemessen werden. Zunächst dachten die beiden Wissenschaftler, sie hätten sich geirrt.

Ausbreitung von Supershear-Rissen

Schneebrettlawinen sind durch eine scharfe und breite Bruchlinie gekennzeichnet, die an der Spitze der ausgelösten Schneemasse entsteht. Eine solche Lawine bildet sich, wenn eine dichte Schneeschicht (das Schneebrett) auf einer schwachen Schneeschicht mit geringem Zusammenhalt liegt. Wenn eine Lawine ausgelöst wird, zum Beispiel durch Skifahrer, bricht die schwache Schicht zusammen und das Schneebrett verliert die darunter liegende Stützstruktur. Die anschliessende Durchbiegung des Schneebretts ist eine der Hauptursachen für die Rissausbreitung. Zumindest war dies der Mechanismus, den Experimente und numerische Modelle auf der Grundlage von getesteten und simulierten Platten mit einer Länge von weniger als zwei Metern bisher nahelegten.

Bei der Modellierung von Platten mit einer Länge von etwa 100 Metern fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der EPFL und des SLF jedoch heraus, dass, sobald sich die Rissausbreitung über drei bis fünf Meter hinaus ausdehnt, die Plattenspannung die einzige Triebkraft für den Ablöseprozess ist und die schwache Schicht unter Scherung versagt. Dieses Phänomen ähnelt dem so genannten «Supershear»-Bruchmechanismus, der bei den seltenen Erdbeben hoher Stärke, über die man berichtete, beobachtet wurde. «Wir hatten das Gefühl, dass wir etwas Wichtiges entdeckt hatten, aber wir brauchten experimentelle Daten, um es zu bestätigen», sagt Gaume.

Videoanalysen

Eine Reihe von Zufällen gab Trottet und Gaume dann die Gelegenheit, ihre Entdeckung zu bestätigen. Zunächst besuchte Gaume einen Konferenzvortrag, in dem Ron Simenhois vom Colorado Avalanche Information Center eine Hightech-Videoanalysemethode beschrieb, an der er arbeitet. Etwa zur gleichen Zeit schickte Mathieu Schaer – ein ehemaliger EPFL-Student des Umweltingenieurwesens, der heute professioneller Snowboarder und Ingenieur bei MétéoSuisse ist – Gaume ein Video, das zeigt, wie er nur knapp einer grossen Schneebrettlawine entkam (siehe Foto).

«Die Lawine ereignete sich am Col du Cou in den Schweizer Alpen», sagt Gaume, «wir hatten Schneedaten von diesem Ereignis und das Video von Schaer war von hervorragender Qualität, da er für einen Snowboard-Film filmte [siehe Pressemappe]. Durch die Analyse des Videos und die Untersuchung der verschiedenen Parameter konnten wir die Ergebnisse unseres Modells zum ersten Mal bestätigen», sagt Gaume. Insgesamt vier reale Lawinenabgänge ermöglichten es den Wissenschaftlern, den Übergang von einem «Anticrack»-Ausbreitungsmodus zu einem «Supershear»-Modus zu bestätigen, der bei einigen grossen Erdbeben beobachtet wird. Basierend auf diesen Erkenntnissen baut das SLF-Institut nun in Davos grössere Versuchsanlagen auf, um weitere Erkenntnisse über den Auslöseprozess von Schneebrettlawinen zu gewinnen.

Für eine bessere Gefahrenbewertung

Ihre Arbeit wird den Schneeforschenden helfen, neue Schlüsse zu ziehen, die die Computermodelle für Lawinen vereinfachen und die erforderliche Rechenzeit erheblich verkürzen können – von mehreren Tagen auf wenige Minuten. Die verbesserten Modelle könnten beispielsweise zur Bestimmung der Grösse von Lawinen verwendet werden, was für eine wirksame Risikovorhersage und ein wirksames Risikomanagement von entscheidender Bedeutung ist.