Mit dem Auto in die Stadt zu pendeln, ist nicht immer freiwillig

Eine EPFL-Studie zeigt, dass Pendelnde in Vorstädten bei ihrer Entscheidung, das Auto zu benutzen, nicht unbedingt auf Umweltbelange Rücksicht nehmen. Viele Pendelnde – vor allem solche mit komplexen Terminplänen – haben das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Das gilt besonders für berufstätige Mütter.
Sich anders als mit dem Auto fortbewegen zu können, ist manchmal ein Luxus. © iStock

Der Verkehr ist für ein Drittel der Treibhausgasemissionen in der Schweiz verantwortlich, und 75 % dieser Emissionen stammen aus dem Autoverkehr. Der Verkehr ist einer der einzigen Sektoren, in dem die Kohlenstoffemissionen seit 1990 gestiegen sind. Dieses Problem ist in den Städten besonders akut: Der Modalanteil des Autos in Schweizer Städten liegt zwischen einem Drittel und einem Viertel. Eine kürzlich durchgeführte EPFL-Studie untersuchte die Faktoren, die hinter der Beliebtheit des Autos in städtischen Gebieten stehen, und kam zu dem Ergebnis, dass Umweltaspekte bei der Wahl des Verkehrsmittels durch Pendelnde nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zu den wichtigeren Faktoren gehören die Bequemlichkeit – wie gut eine Transportmethode in ihren geschäftigen Lebensstil passt – und der Komfort – wie angenehm dieErfahrung ist, z. B. bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder des Fahrrads.

In der Tat hat nicht jeder den Luxus, selbst zu entscheiden, ob er sein Auto nimmt oder nicht. Viele Menschen fühlen sich zum Autofahren gezwungen, obwohl sie es als stressig und einschränkend empfinden. Für Pendelnde mit einem besonders komplexen und hektischen Alltag, wie z.B. berufstätige Mütter, ist das Auto die naheliegendste Lösung. Das ergab die EPFL-Studie, die von zwei Wissenschaftlerinnen des Laboratory for Human-Environment Relations in Urban Systems (HERUS) durchgeführt wurde. Die Forscherinnen führten lange, ausführliche Interviews mit Kurzstreckenpendelnden in zwei Schweizer Städten durch. Ihre Ergebnisse – die sich mit der bestehenden Mobilitätsforschung decken – wurden soeben in der Zeitschrift Mobilities veröffentlicht.

Basel und Genf

Im Gegensatz zu Studien, die darauf abzielen, grosse Trends zu quantifizieren, untersuchte diese Studie gezielt die Wünsche, Werte und Erfahrungen von Pendelnden. Die Forscherinnen Franziska Meinherz und Livia Fritz befragten zehn berufstätige Personen aus Basel und acht, die in Genf leben, alle mit einem relativ kurzen Arbeitsweg. Die Stichprobe bestand zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen (mit und ohne Kinder) und umfasste sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende, die verschiedene Verkehrsmittel nutzen. Die Interviews wurden im Frühjahr 2018 durchgeführt.

Basierend auf den Ergebnissen identifizierten die Wissenschaftlerinnen vier Typologien, die die Pendelgewohnheiten der Menschen beschreiben, sowie die Dynamik, die den Veränderungen dieser Gewohnheiten zugrunde liegt. Die Ergebnisse zeigen, dass Pendeln funktional sein kann, das heisst, es wird durch ein eng getaktetes Familienleben bestimmt; hedonisch, das heisst, es steht im Zusammenhang mit dem Erleben von Vergnügen; repräsentativ, das heisst, es steht im Zusammenhang mit der Identität und den Werten des Pendelnden; und gewohnheitsmässig, im Fall von Menschen, die hauptsächlich aus Gewohnheit handeln.

«Wir sollten darüber nachdenken, wie wir den Pendelnden eine Last abnehmen können, statt ihnen mit Umweltgründen ein schlechtes Gewissen zu machen.»      Franziska Meinherz

Anschliessend untersuchten die Wissenschaftlerinnen, welche Faktoren bei Pendelnden eine Rolle spielen, wenn sie von einem Typ zum anderen wechseln oder innerhalb eines Typs bleiben. Sie fanden heraus, dass viele Menschen, die von hedonischen Gründen angetrieben werden, aktive Verkehrsmittel wie Radfahren oder zu Fuss gehen vorziehen, während bei Menschen, die das eigene Auto nutzen, der funktionale Typ vorherrscht. Vor allem aber zeigte die Studie, dass ökologische Belange oft erst dann ins Spiel kommen, wenn Pendelnde positive Erfahrungen mit einem ökologischen Verkehrsmittel (z. B. der Zug) gemacht hat oder mehr Freiheit im täglichen Pendeln gewonnen haben, wenn die Kinder erwachsen sind. Kohlenstoffemissionen scheinen daher ein sekundärer Faktor zu sein und nicht der Hauptgrund, aus dem eine Person ihre gewohnte Art der Fortbewegung ändern würden.

Der funktionale Typus ist eher bei Pendelnden zu finden, die nach der Geburt ihrer Kinder aus der Stadt in die Vorstadt gezogen sind. Das liegt daran, dass das Auto für sie immer noch die flexibelste Transportmöglichkeit darstellt. Diese Erkenntnisse sind für Stadtplanende interessant: «Untersuchungen wie unsere zeigen, dass Menschen, die ihr Auto aufgeben, mit ihrer Entscheidung weitgehend zufrieden sind. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir den Pendelnden eine Last abnehmen können, statt ihnen mit Umweltgründen ein schlechtes Gewissen zu machen. Dabei geht es nicht nur um den Kohlendioxidausstoss", sagt Meinherz. Andere Themen, mit denen sich die Stadtverwaltung befassen könnte, sind Familien- und Wohnungspolitik sowie Stadtplanung.

«Die meisten Befragten beklagten sich über den Berufsverkehr – insbesondere berufstätige Mütter.»      Franziska Meinherz

Teuer, unbequem und stressig

Ausserdem beobachteten die Forscherinnen, dass die Stadtbewohner das Auto früher als effizient, praktisch, schnell und sogar als Statussymbol ansahen, während sie es heute als teuer, unbequem und stressig empfinden. «Ich habe die Befragten frei sprechen lassen ohne zu urteilen», sagt Meinherz, «ich persönlich benutze mein Fahrrad, und ich war neugierig, als eine unserer Befragten sagte, dass sie es geniesst, am Ende des Tages im Stau zu stehen, weil sie sich dann entspannen und Musik hören kann. Aber die meisten anderen Befragten beklagten sich über den Berufsverkehr – vor allem berufstätige Mütter. Sie sind es, die ihre Kinder zur Schule und zu ausserschulischen Aktivitäten fahren, Einkäufe erledigen und Besorgungen machen, während der Mann mit dem Elektrovelo unterwegs ist.» Für einen gleichberechtigten Zugang zu angenehmen, kohlenstoffarmen Verkehrsmitteln zu sorgen, könnte daher ein Ziel der öffentlichen Politik sein, so die Wissenschaftlerinnen.