Machtteilung und ihre Nebenwirkungen

Die Beteiligung ethnischer Minderheiten an der Regierung entscheidet bisweilen zwischen Krieg und Frieden. ETH-Postdoc Andreas Juon erforscht, wie sich unterschiedliche Formen der Machtteilung auf die Stabilität und Qualität von politischen Systemen auswirken.
Andreas Juon

Als Andreas Juon im Mai 2009 wie jeden Morgen den Bus in die Children's Model High School im Zentrum von Kathmandu nimmt, wo er seit knapp drei Monaten als Englischlehrer arbeitet, knallt es plötzlich laut. Steine prallen von der Scheibe des Buses ab und hinterlassen spinnennetzförmige Risse.

«Ein Moment, den ich nie vergessen werde», sagt der ETH-Postdoc knapp 12 Jahre später, als er entspannt in seiner Wohnung in Zürich vor dem Zoom-Bildschirm sitzt. «Natürlich habe ich an diesem Tag nicht an die Ursachen von Bürgerkriegen gedacht», antwortet Juon auf die Frage, ob es eine Verbindung zwischen dem Angriff auf den Bus durch maoistische Protestierende und seiner jetzigen Forschung gibt. «Aber meine Erfahrungen in Nepal haben mich sicher für ethnische Konflikte sensibilisiert.»

Prägende Erfahrungen in Nepal

2009 waren in Nepal knapp drei Jahre vergangen, seit die sich die Regierung und die maoistischen Rebellen auf ein Friedensabkommen geeinigt und damit einen 10 Jahre dauernden blutigen Bürgerkrieg beendet hatten. Die Maoisten und vorher ausgeschlossene ethnische Minderheiten sollten fortan an der Regierung beteiligt werden.

«Ohne diese Einbindung der Maoisten wäre das Abkommen 2006 nicht zustande gekommen», ist sich Andreas Juon heute sicher. Doch die Machtteilung im Land hatte mittelfristig nicht nur positive Folgen: Auf Grund der neu etablierten Vetorechte unterschiedlicher Akteure war die Regierung zwischen 2006 und 2009 oft blockiert und handlungsunfähig. Im Mai 2009 gipfelte diese von Instabilität geprägte Phase in der Absetzung des maoistischen Premierministers. Es folgten Proteste und Streiks, bei denen schliesslich auch der Schulbus des damals 19-jährigen Juon mit Steinen beworfen wurde.

Für den Postdoc, der heute in der International Conflict Research Group von ETH-Professor Lars-Erik Cederman forscht, war diese Zeit nicht nur persönlich prägend. Seine Erfahrungen in Nepal illustrieren auch einen wichtigen Aspekt seiner aktuellen Forschung: Machtteilung ist zwar nach Bürgerkriegen ein wichtiges Instrument, um die Gewalt zu stoppen. Mittel- bis langfristig führt sie aber zu einer Reihe von unbeabsichtigten und bisweilen schädlichen Nebenwirkungen, die es auch zu berücksichtigen gilt.

Ethnische Bürgerkriege und Minderheiten

Andreas Juon studiert nach seinem fünfmonatigen Sozialdienst in Nepal Humangeographie an der Universität Zürich. Für seinen Master wechselt er ans Center for Comparative and International Studies, das die politikwissenschaftlichen Professuren der ETH Zürich und der Universität Zürich vereint.

Sein akademisches Interesse an ethnischen Konflikten wird vor allem durch die Vorlesungen und Seminare von Lars-Erik Cederman geweckt. Cederman und seine ehemaligen Doktorierenden und Postdocs, die mittlerweile selbst an zahlreichen Topuniversitäten forschen, prägen seit Jahren wie kaum eine andere Forschergruppe die internationale Diskussion zu den Ursachen ethnischer Konflikte.

In zahlreichen Publikationen belegen sie, dass Bürgerkriege wahrscheinlicher sind, wenn ethnische Minderheiten von der Mehrheitsregierung ausgeschlossen werden, gut organisiert sind oder in der Vergangenheit bereits in Konflikte involviert waren. Die Einbindung grosser ethnischer Minderheiten senkt im Umkehrschluss deren Unzufriedenheit und dadurch auch das Risiko eines Gewaltausbruchs.

Ethnische Bürgerkriege wie in Ex-Jugoslawien, in Ruanda, im Libanon und ja, in Nepal, illustrieren dies eindrücklich: Wie man Minderheiten politisch einbindet, ist eine der zentralen Fragen eines politischen Systems, vielleicht sogar die wichtigste. Denn an dieser Frage bemisst sich nicht nur, wie weit entwickelt eine Demokratie ist, sondern auch wie stabil. Dies zeigt auch die Geschichte der Schweiz, wo seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 schrittweise immer mehr Gruppen integriert wurden.

Von Zürich nach London und wieder zurück

Obgleich Andreas Juon von der Forschung zu ethnischen Konflikten fasziniert ist, schreibt er schliesslich eine Masterarbeit zu den Nebenwirkungen von Machtteilung auf die Demokratie bei Daniel Bochsler, der mittlerweile Professor in Wien und Belgrad ist, aber weiterhin als Dozent an der Universität Zürich unterrichtet. Aus dem Betreuungsverhältnis wird schnell eine produktive Zusammenarbeit: Bochsler und Juon veröffentlichen zwischen 2016 und 2020 drei gemeinsame Artikel, in denen es auch um Machtteilung und Einbezug von Minderheiten geht.

Nach dem Abschluss seines Masters im Herbst 2015 zieht es den mittlerweile 26-jährigen Schweizer für ein Doktorat ans University College London. Er will verstehen, wie sich die Art und Weise, wie ethnische Minderheiten in Regierungen und Parlamenten eingebunden werden, auf die inter-ethnischen Beziehungen und die Einstellungen von Minderheits- und Mehrheitsgruppen auswirkt. Vier Jahre wird sich Juon in London an diesen Fragen abarbeiten.  Dabei orientiert er sich an der in der vergleichenden Politikwissenschaft gut etablierten Unterscheidung zwischen korporatistischer und liberaler Machtteilung.

Korporatistische und liberale Machtteilung

Korporatistische Formen der Inklusion definieren explizit, welche Gruppen wie stark in der Regierung oder im Parlament repräsentiert sein sollen. Dafür kommen meist Quoten oder Vetorechte zum Einsatz. Belgien ist ein gutes Beispiel: Die Verfassung garantiert der Wallonischen Minderheit die Hälfte aller Regierungssitze und wichtige Gesetze können durch eine Mehrheit von jeder der drei Sprachgruppen im Land blockiert werden. Auch die bosnische Nachkriegsverfassung von 1995 gilt als besonders korporatistisch. Sie behält den Zugang zu wichtigen Staatsämtern den Bosnischen, Serbischen und Kroatischen Volksgruppen vor.

«Diese explizite Aufzählung von Rechten bietet ethnischen Minderheiten die stärkste Garantie politisch anerkannt und gehört zu werden», sagt Juon. Da vor allem nach Bürgerkriegen ein tiefes Misstrauen zwischen ethnischen Gruppen besteht, sind solche Garantien oft der einzige Weg, um den Frieden zu sichern.

Doch korporatistische Machtteilung hat auch ihren Preis: die Exklusion kleiner Minderheiten. So werden in Bosnien zum Beispiel Jüdische Bürger oder Angehörige der Roma explizit vom politischen Leben ausgeschlossen. In diesem Spannungsfeld zwischen der Einbindung einiger grosser und der Exklusion kleinerer Gruppen bewegt sich Juons Forschung bis heute.

««Korporatistische Machtteilung hat ihren Preis: die Exklusion kleiner Minderheiten.»»      Andreas Juon

Liberale Machtteilungsmechanismen sind im Unterschied zu korporatistischen inklusiver. Sie funktionieren über stark proportionale Wahlsysteme mit sehr niedrigen Eintrittshürden und hohen Mehrheitserfordernissen bei wichtigen Entscheidungen. Der Vorteil liegt gemäss Juon darin, dass die Garantien für Minderheiten zwar gleichmässiger verteilt sind, aber weniger stark.

«Welche Minderheit wie stark in der Regierung und im Parlament vertreten ist, hängt bei liberaler Machtteilung vom Wahlsystem ab und wird nicht in der Verfassung festgeschrieben. Dies gibt auch kleineren Gruppen die Chance, ihre Interessen geltend zu machen.» Die Übergangsverfassung Südafrikas nach der Apartheid wird oft als Beispiel für eine liberale Spielart der Inklusion genannt. Auf Grund des überaus proportionalen Wahlsystems und niedriger Hürden für die Regierungsbeteiligung - jede Partei mit 5% Sitzanteil im Parlament hat ein Anrecht auf Ministerposten - war die weisse Minderheit auch nach dem Ende der Apartheid im Parlament und in der Regierung vertreten.

Ein neuer Datensatz für globale Machtteilung

Wie untersucht man nun, wie sich korporatistische und liberale Formen der Machtteilung auf die Einstellungen sowohl von Minderheits- als auch Mehrheitsgruppen auswirken? Welche der beiden Formen führt eher zu Stabilität und warum? Um diese Fragen beantworten zu können, sind Daten zur Inklusion von Minderheiten in möglichst vielen Ländern notwendig. Doch Andreas Juon stellt bereits zu Beginn seines Doktorats in London fest, dass es diese Daten nicht bzw. nur mangelhaft gibt.

Juon entscheidet sich daher, seinen eigenen Datensatz zu erstellen. «Das war sicher der aufwendigste Teil meiner Dissertation. Über ein Jahr lang bin ich alle Verfassungen und Verfassungsänderungen von 180 Ländern von 1945 bis heute durchgegangen und habe kodiert, ob sie eher der liberalen oder der korporatistischen Machtteilungslogik entsprechen», sagt Juon nicht ohne Stolz.

700 Verfassungstexte wird er am Ende gesichtet haben. Das Resultat: das Constitutional Power-Sharing Dataset. Dieser umfassende Datensatz ermöglicht es dem ETH-Postdoc erstmals, die Wirkung unterschiedlicher Inklusionsformen auf die Einstellungen von Mehrheits- und Minderheitsgruppen statistisch zu analysieren. Um letztere messen zu können, kombiniert Juon eine Reihe vergleichender Umfragen wie die World Value Survey, das Eurobarometer oder das Afro Barometer, welche jeweils abfragen, wie zufrieden Menschen mit ihrer Regierung sind.

Dem Inklusions-Neid auf der Spur

Auf Basis dieses neuen Datensatzes zeigt Juon, dass korporatistische Machtteilung bei jenen Gruppen, die explizit miteinbezogen werden, zu einer höheren Zufriedenheit mit der Regierung führt. Dies ist nicht weiter überraschend. Menschen, die Teil einer ethnischen Gruppe sind, fühlen sich im Schnitt gerechter behandelt, wenn sie an der politischen Macht beteiligt werden und dadurch mehr Einfluss und Mitsprache erhalten. Ihr Anreiz, sich gegen die Regierung aufzulehnen, sinkt, was im Anschluss an ethnische Konflikte für Stabilität sorgt. Juon ist einer der ersten, der dies statistisch in dieser Breite belegen kann.

Doch seine Analyse geht über diese Gruppen hinaus. Er untersucht auch, wie Angehörige jener Minderheiten reagieren, die von der Machtteilung ausgeschlossen sind. Auch hier ist es nicht sonderlich überraschend, dass diese Personen besonders unzufrieden mit der Regierung sind. Erstaunlich ist jedoch, dass die Unzufriedenheit steigt, je mehr andere Gruppen integriert werden.

Juon zu Folge gibt es also so etwas wie «Inklusions-Neid». Bei der Einschätzung ihrer Zufriedenheit mit der Regierung scheinen Personen vor allem im Blick zu haben, wie stark sie selbst im Vergleich zu anderen bei der Machtteilung berücksichtigt werden. «Werden andere Minderheiten stärker eingebunden, lässt dies die eigene Exklusion schlimmer erscheinen als wenn alle Minderheiten gleichermassen ausgegrenzt werden», erklärt Juon.

Oder anders gesagt: ein von einer Mehrheitsgruppe dominiertes politisches System wird von exkludierten, kleinen Minderheiten als gerechter erachtet, als ein korporatistisches System, bei dem lediglich die grössten Minderheiten eingebunden werden. «Der Preis für Stabilität ist manchmal schlichtweg, dass man nicht alle Gruppen gleichermassen einbinden kann», gibt Juon zu bedenken.

««Werden andere Minderheiten stärker eingebunden, erscheint die eigene Exklusion schlimmer »»      Andreas Juong

Machtteilung als Ursache für Staatsstreiche?

Juons Modelle zeigen darüber hinaus, dass auch liberale Machtteilungsinstitutionen die Unzufriedenheit von Minderheiten reduzieren. Deren Wirkung ist aber sehr viel schwächer als im Rahmen korporatistischer Institutionen. Dafür ist die Unzufriedenheit bei Minderheiten etwas gleichmässiger verteilt und kleinere Minderheiten haben bessere Chancen am politischen Prozess teilzuhaben.

Doch liberale Lösungen sind nach gewaltsamen Konflikten viel schwieriger zu erreichen, da sie Minderheiten einen weniger starken Schutz bieten. «Je unsicherer Minderheiten sind, dass sie in Zukunft nicht von der Mehrheit übervorteilt werden, desto eher fordern sie korporatistische Institutionen. In einem friedlichen Kontext hingegen sind liberale Regelungen von Vorteil, da sie inklusiver sind und unbeabsichtigte Nebenwirkungen minimieren», fasst Juon seine Ergebnisse zusammen.

Etwas weniger eindeutig aber gleichsam brisant ist die Wirkung der korporatistischen Machtteilung auf Mehrheitsgruppen. Juons Analysen deuten vor allem für die afrikanischen Staaten südlich der Sahara darauf hin, dass die formale Einbindung von grossen Minderheiten die Wahrscheinlichkeit eines Putsches durch Mehrheitsgruppen erhöht.

Der Mechanismus dafür funktioniert wie folgt: Die Unzufriedenheit der Mehrheitsgruppe steigt in dem Masse, wie sie ihre Macht mit Minderheiten teilen muss. Politische Eliten können diese Unzufriedenheit dann nutzen, um das gesamte korporatistische System zu untergraben und erneut eine dominante Mehrheitsregierung zu installieren.

«Anhand dieser Ergebnisse wird ersichtlich, dass inklusive Systeme nicht per se stabilitätsfördernd sind. Zu viel Machtteilung kann auch nach hinten losgehen», gibt der Politologe zu Bedenken. Es sind vor allem diese «Trade-offs» zwischen Einbindung und Exklusion, die Juons Forschung auch für politische Entscheidungsträger relevant machen. Um das Risiko eines sogenannten «Backlash» der Mehrheit zu reduzieren, kann zum Beispiel auch die Mehrheitsbevölkerung als staatstragende Gruppe anerkannt werden.

Autonome Gebiete als neues Forschungsprogramm

Seit einem halben Jahr forscht Andreas Juon nun dort, wo er als Masterstudent zum ersten Mal mit der Forschung zu ethnischen Bürgerkriegen in Berührung kam: in der Gruppe für internationale Konfliktforschung von Lars-Erik Cederman. «Meine Forschung dort fortsetzen zu können, wo seit Jahren Pionierarbeit im Bereich Konfliktforschung geleistet wird, ist für mich eine einmalige Gelegenheit», betont Juon.

Aktuell liegt sein Fokus auf zwei Forschungsprojekten: Zum einen sieht er sich die Wirkung von Machtteilung auf Mehrheitsgruppen genauer an. Denn die Unzufriedenheit der Mehrheit in Folge der Einbindung von Minderheiten sollte sich, so Juons These, nicht nur in Form von Staatsstreichen, sondern auch bei Wahlen bemerkbar machen. Deshalb untersucht er nun, wie sich die Einbindung von Minderheiten auf den Wahlerfolg von rechtsnationalen Parteien auswirkt. So kann zum Beispiel die Wahl Donald Trumps als Reaktion einer weissen Mehrheit auf die Präsidentschaft Barack Obamas gedeutet werden.

Zum anderen beschäftigt sich Juon neu mit autonomen Gebieten in föderalen Systemen. Auch hier interessiert sich der ETH-Postdoc, wie sich der Autonomiestatus auf die Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit auswirkt. Können regionale Mehrheitsgruppen ihre Macht nutzen, um die Autonomie der von ihnen dominierten Gebiete zu stärken und damit ihren Einfluss auszuweiten? Und gibt es in diesen Regionen mehr Gewalt gegenüber internen Minderheiten? Im Unterschied zu seiner Zeit als Doktorand in London liegen Daten dafür bereits vor. Juon hat sie selbst erhoben.

Reference

Juon A, Bochsler D. Fresh breeze or hurricane? Disentangling the populist effect on the quality of democracy. European Political Science Review, June 23th 2020, DOI: 10.1017/S1755773920000259

Bochsler D, Juon, A. Authoritarian Footprints in Central and Eastern Europe. Eastern European Politics, March 9th 2019. DOI: 10.1080/21599165.2019.1698420

Juon, A. Minorities overlooked: Group-based power-sharing and the exclusion amid-inclusion dilemma. International Political Science Review, October 24th 2019, DOI: 10.1177/0192512119859206