Ein neuer Landschaftsatlas hilft, uns Paris in der Zukunft vorzustellen

Das Habitat Research Center der EPFL hat den ersten Atlas der Pariser Landschaften erstellt, nachdem es eine Ausschreibung der französischen Regierung und der Stadt Paris gewonnen hatte. Der Atlas ist das Ergebnis eines höchst innovativen Ansatzes in der Stadtforschung, da er nicht nur Karten, sondern auch Aussagen von Anwohnerinnen und Anwohnern enthält.
Joanne Nussbaum, links, Paola Viganò, Mitte, Ben Gitai, rechts. © 2023 EPFL / Alain Herzog

Bei dem Wort «Atlas» denkt man an ein grosses, schön illustriertes Buch mit zahlreichen Karten, die zusammengenommen ein detailliertes Bild einer Region zu einem bestimmten Zeitpunkt zeichnen – sozusagen eine Enzyklopädie der Region. Das trifft sicherlich auf den Pariser Atlas der Landschaften zu, der vom Habitat Research Center (HRC) der EPFL im Laufe eines Jahres entwickelt wurde. Aber dieser Atlas geht noch weiter, denn er erforscht auch, wie die Pariserinnen und Pariser ihre Stadt empfinden. Er stützt sich auf die Definition einer Landschaft, die auf der Landschaftskonferenz des Europarats in Florenz im Jahr 2000 verabschiedet wurde: «Ein Gebiet, wie es von den Menschen wahrgenommen wird, dessen Charakter das Ergebnis des Wirkens und der Interaktion natürlicher und/oder menschlicher Faktoren ist», was bedeutet, dass die Bewohnenden eine aktive Rolle bei der Gestaltung, dem Schutz und der Aufwertung ihrer Stadtlandschaft spielen sollten – ebenso wie die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger.

Der Atlas ist fast fertiggestellt. Im nächsten Frühling wird er in Form eines über 500 Seiten starken Buches und einer interaktiven Website veröffentlicht. Zusätzlich zu den Karten enthält er auch Aussagen von Stadtbewohnern, die die Ergebnisse der französischen Expertinnen und der HRC-Forschenden widerspiegeln. Darüber hinaus ist der Atlas zukunftsorientiert: Er befasst sich mit den wichtigsten Herausforderungen, vor denen Paris – eine Stadt inmitten eines gesellschaftlichen und ökologischen Wandels – steht, und enthält verschiedene Empfehlungen.

Partizipativer Workshop mit Anwohnenden zum Thema urbane Landschaften, 23. Juni 2023, im  Pavillon de l'Arsenal. © Ben Gitai / HRC / EPFL

Erinnerungen und gemeinsame Wahrnehmungen

Für die französische Regierung, die Stadt Paris und die anderen an dieser Initiative Beteiligten ist der Atlas ein entscheidender Moment in der Geschichte der Stadt. Er beleuchtet die Herausforderungen und Bedrohungen für die natürlichen und urbanen Landschaften von Paris, die sich in einem tiefgreifenden Wandel befinden. «Unser Atlas ist ein Speicher für Erinnerungen und gemeinsame Wahrnehmungen, die nicht zeitlich festgelegt sind und die zukünftige Planungsbemühungen beeinflussen können», sagt Paola Viganò, Leiterin des HRC. «Diese Erinnerungen und Wahrnehmungen sind wiederum das Ergebnis einer Vision, in der Landschaften eine Schlüsselrolle spielen.»

Ben Gitai, Postdoc am HRC und Koordinator des Forschungsteams, fügt hinzu: «Wir haben die Stadt Schicht für Schicht zerlegt, um ihre gesamte geomorphologische, historische und gesellschaftliche Komplexität darzustellen.» Die HRC-Forschenden erstellten den Atlas als eine hybride Initiative: Neben dem Buch umfasst er öffentliche Aktivitäten – 15 Stadtspaziergänge sowie partizipative Workshops – und Interviews mit Fachleuten und städtischen Beamten wie den Bürgermeistern der Pariser Bezirke. Anhand dieser Informationen konnten die Forschenden untersuchen, wie sich die Aussagen der Einwohnerinnen und Einwohner mit den Theorien, Plänen und Dokumenten der Stadtplanung decken. In den Atlas sind auch Pariser Bilder aus Literatur und Film eingeflossen.

Ein Stadtspaziergang in der Jourdain Nachbarschaft, organisiert vom Team, Juni 2023. © Ben Gitai / HRC / EPFL

Bewahrung der lokalen Einzigartigkeit

Bei der Analyse der Stadt Paris haben die Forschenden die Elemente, aus denen sich die Stadtlandschaft zusammensetzt, genau unter die Lupe genommen: eine Vielzahl von Hügeln, Steigungen, Bergen, Tälern und Bergpässen. Die Bedeutung dieser Elemente wird nach Ansicht des Teams oft unterschätzt, da die Topografie einer Stadt ein Schlüsselfaktor dafür ist, wie die Bewohnenden ihre Räume erleben und wie die natürliche Umgebung funktionell mit dem städtischen Leben interagiert. Der Atlas unterteilt Paris in eine Reihe von «Dörfern» und die Gebiete zwischen den Dörfern, die als «gemeinsame städtische Räume» bezeichnet werden – ein Ansatz, der viele Diskussionen auslöste. Die Idee war, die Beziehung zwischen Paris als pulsierender Hauptstadt und den Räumen, in denen die Einwohnerinnen und Einwohner leben und sich auf lokaler Ebene begegnen, vor dem Hintergrund einer gemischten Landschaft, die von unterschiedlichen Geschichten, Morphologien und Nutzungen geprägt ist, darzustellen.

Die Forschenden betonen, dass es wichtig ist, die Einzigartigkeit jedes Dorfes und der Gebiete zwischen den Dörfern zu erhalten, da Paris Gefahr läuft, zu einer homogenen Metropole zu werden. Diese Homogenisierung wird durch eine Reihe von Faktoren vorangetrieben: Gentrifizierung, Einheitslösungen für den Klimawandel, soziologische Veränderungen (z. B. durch den Massentourismus), wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich (wobei die Mittelschicht verdrängt wird) und Veränderungen des Stadtbildes durch gross angelegte Initiativen zur Anpassung an Dürren und Hitzewellen. Das Ziel der Stadt, 170 000 Bäume zu pflanzen und Gebäudefassaden und Dächer zu begrünen, ist ein Hinweis auf das Ausmass der Veränderungen, die in einer monumentalen Stadt wie Paris bevorstehen.

Seminar mit der Ecole nationale supérieure für Architektur von Versailles, am 6. April 2023. © Ben Gitai / HRC / EPFL

Anpassung an den Klimawandel

Der Atlas enthält auch eine Bewertung der biologischen Vielfalt von Paris, die auf laufenden Studien und einer Analyse der Anfälligkeit der Stadt für die globale Erwärmung beruht. Eine Karte zeigt beispielsweise, dass die Böden in Paris immer noch weitgehend undurchlässig sind, auch wenn es wahrscheinlich häufiger zu starken Regenfällen kommen wird. Das Team untersuchte auch die Infrastruktur entlang der Seine und stellte fest, dass viele Strukturen dringend verstärkt werden müssen, um Überschwemmungen, Strassenüberflutungen und überlastete Pumpstationen zu verhindern. Sie kamen auch zu dem Schluss, dass es in der Stadt zu viele Hitzeinseln gibt, da Paris im Jahr 2080 wahrscheinlich an etwa 30 Tagen im Jahr Temperaturen von 50 °C erleben wird.

Eine Website und eine Ausstellung

Mit dem Pariser Landschaftsatlas wollen die EPFL-Forschenden den Verantwortlichen der Stadt ein Instrument an die Hand geben, mit dem sie Schwachstellen aufzeigen und Diskussionen anregen können. Die dazugehörige Website wird Fotos, Videos, Audiobeiträge, interaktive Karten und herunterladbare Wanderrouten enthalten. Darüber hinaus wird der Atlas im kommenden Frühjahr im Pariser Pavillon de l'Arsenal öffentlich ausgestellt.

Ein vom Team organisierter Spaziergang an der Seine, Oktober 2023. © Ben Gitai / HRC / EPFL

Auszüge aus Erfahrungsberichten

- «Sein Elternhaus befand sich im Erdgeschoss, und jetzt arbeitet er im Erdgeschoss, weil sein Unternehmen im Erdgeschoss angesiedelt ist. Für ihn ist das Leben in der Stadt also ein Leben im Erdgeschoss, auf der Strasse – das Institut der Arabischen Welt, das Centre Pompidou usw.»

- «Ich weiß, dass wir hier über urbane Landschaften sprechen, aber ich persönlich fühle mich in einer 'Landschaft', wenn ich einen von Bäumen gesäumten Platz oder einen Garten inmitten all des Betons sehen kann.»

- Bei einem Spaziergang über die Champs-Elysées: «Das ist ja furchtbar! Während die Skyline ziemlich erstaunlich ist, ist die moderne Nutzung des Platzes beklagenswert. Die Einzelhandelsgeschäfte und Schilder sind eine Plage. Es ist unerträglich hässlich. Und sie verdecken die Architektur völlig. Die grossen Gebäude im Stil von 1900 wurden zwar restauriert, aber die Reklametafeln und hellen Lichter lenken von dem ab, was man eigentlich sehen sollte.»

- «Ich wohne in Paris, in der Nähe des Palais Royal – ein Viertel, das mehr als jedes andere zeigt, wie unsere Hauptstadt aus kleinen Dörfern besteht, die nichts miteinander zu tun haben... Dieses verlassene Viertel hat die ganze Schönheit einer leeren Muschel, die an den Strand gespült wurde» Jean Cocteau, Paris, Grasset, 2013, S. 27-28.

Weitere Informationen

Links

Der Pariser Atlas der Landschaften, Habitat Research Center, EPFL

Finanzierung

Französische Regierung und die Stadt Paris

Referenzen

  • The Paris Atlas of Landscapes, Habitat Research Center, EPFL, 513 Seiten, 2023, eine Initiative des Habitat Research Center (HRC), ENAC, EPFL
  • HRC-Projektteam: Paola Viganò, Ben Gitai, Noélie Lecoanet, Joanne Nussbaum und Clarisse Protat.
  • Weitere EPFL-Experten: Valentin Bourdon (HRC), Charlotte Grossiord (PERL, ein der HRC angeschlossenes Labor), Gabriele Manoli (URBES, ein der HRC angeschlossenes Labor), Luca Pattaroni (LASUR, ein der HRC angeschlossenes Labor) und Paolo Perona (PL-LCH und HRC).
  • Externe Sachverständige: Jean-Marc Besse (Forschungsleiter am CNRS und Studiendirektor an der EHESS), Dominique Marchais (Filmregisseur und Dozent an der ENS für Geowissenschaften) und Chiara Santini (Landschaftshistorikerin an der ENSA Versailles).