Entwicklung eines menschenfreundlichen Roboterrollstuhls

Roboter-Rollstühle könnten bald in der Lage sein, sich reibungslos und sicher durch Menschenmengen zu bewegen. Im Rahmen des von der EU finanzierten Projekts CrowdBot untersuchen EPFL-Forscherinnen und -Forscher die technischen, ethischen und sicherheitsrelevanten Aspekte einer solchen Technologie. Ziel des Projekts ist es, behinderten Menschen die Fortbewegung zu erleichtern.
Aude Billard, Leiterin des LASA und Diego Paez, Postdoc am LASA © Alain Herzog / 2021 EPFL

Wer auf dem Lausanner Wochenmarkt einkauft, ist in den letzten Wochen vielleicht einer Erfindung der EPFL begegnet: einem neumodischen Gerät, das teils Rollstuhl, teils Roboter ist. Es wird von Forschenden des Labors für Lernalgorithmen und Systeme (LASA) der EPFL eingesetzt, um Technologien zu testen, die sie im Rahmen des Projekts CrowdBot entwickeln, das vom INRIA geleitet wird und an dem ein Konsortium von sieben Forschungsorganisationen, darunter die EPFL, beteiligt ist.

Das Projekt wird im Rahmen des EU-Programms Horizon 2020 im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) gefördert. CrowdBot hat zum Ziel, die technische und ethische Machbarkeit von Robotern zu testen, die sich durch belebte Gebiete bewegen. Diese Roboter könnten Humanoide, Serviceroboter oder Assistenzroboter sein. «Man hört viel über selbstfahrende Autos, aber nicht über Roboter, die sich unter Fussgängern bewegen könnten», sagt Aude Billard, die Leiterin der LASA. «Die Robotertechnologie entwickelt sich jedoch eindeutig in diese Richtung, so dass wir jetzt anfangen müssen, darüber nachzudenken, was das alles bedeuten wird.»

«Man hört viel über selbstfahrende Autos, aber nicht über Roboter, die sich unter Fussgängern bewegen könnten»- Aude Billard, head of LASA © Alain Herzog / 2021 EPFL

Viele mögliche Szenarien

Unter den verschiedenen Fragen, die untersucht werden, betrifft die offensichtlichste die Sicherheit der Roboterbenutzenden und der Menschen in ihrer Nähe. Die LASA-Forscher stellten fest, dass die bestehenden Rechtsvorschriften dies nicht berücksichtigen, und begannen, alle möglichen Risiken zu untersuchen, einschliesslich des Risikos eines Zusammenstosses mit einem Menschen.

Die Wissenschaftler wählten einen Roboter namens Qolo – kurz für Quality of Life with Locomotion – für ihre Risikobewertung aus. Qolo wurde ursprünglich an der Universität von Tsukuba in Japan entwickelt und soll als Stehrollstuhl für Menschen mit Behinderungen dienen. Er verfügt über zwei motorisierte Räder und ein passives Exoskelett, das es den Tragenden ermöglicht, sich leicht von einer sitzenden in eine stehende Position zu bewegen.

Das LASA-Team führte in Bern Crashtests mit dem Qolo durch: «Wir haben die Tests mit zwei Arten von Dummys durchgeführt, da die Auswirkungen einer Kollision je nach Körpergrösse variieren können», sagt Diego Paez, Postdoc am LASA, «bei Kindern ist zum Beispiel der Kopf am verletzlichsten, bei schwangeren Frauen ist es der Bauch». Die Forschenden fanden heraus, dass Kollisionen selbst bei niedrigen Robotergeschwindigkeiten, wie unter 6 km/h, schwere Verletzungen verursachen können. Umso wichtiger ist es, diese Kollisionen zu verhindern.

Ein aktives Navigationssystem

Der erste Schritt bestand darin, Qolo so zu modifizieren, dass er seine Umgebung analysieren und auf sie reagieren kann. Die Wissenschaftler statteten den Roboter mit verschiedenen Sensoren aus, darunter Kameras an der Vorderseite und ein Lidar-System mit Lasern an der Vorder- und Rückseite: «Es ist wichtig, dass der Roboter eine 360°-Sicht auf seine Umgebung hat, damit er Hindernissen vor und hinter ihm ausweichen kann. Er muss auch wissen, was sich hinter ihm befindet, falls er schnell ausweichen muss, um eine Kollision zu vermeiden», sagt Paez, «das Lidar-System erkennt alle Arten von Hindernissen, und die Kameras zeigen dem Roboter an, ob es sich um Fussgänger handelt.»

Das Team hat ausserdem Stossdämpfer an der Vorderseite von Qolo angebracht: «Die Stossdämpfer signalisieren dem Roboter, dass er mit etwas in Berührung gekommen ist, und messen die Kontaktkraft, so dass die maximale Kraft sehr niedrig gehalten werden kann, während sich der Roboter noch bewegt», sagt Paez. Mit anderen Worten: Qolo ist nicht so programmiert, dass er anhält, wenn er auf ein Hindernis stösst, sondern dass er sich um dieses herumbewegt: «Ein abrupter Stopp inmitten einer Menschenmenge könnte für Personen, die sich in der Nähe des Roboters befinden, noch gefährlicher sein», sagt er.

Die Daten von Qolos Sensoren werden mit Algorithmen zur Personenerkennung und -verfolgung kombiniert, um abzuschätzen, wie viele Personen sich in der Nähe des Roboters befinden und in welche Richtung sie sich bewegen. Die LASA-Forschenden haben einen speziellen Navigationsalgorithmus für Qolo entwickelt, der es ihm ermöglicht, in nur wenigen Millisekunden den besten Weg zu finden, so dass er in Menschenmengen schnell reagieren kann.

Das Unvorhersehbare vorhersagen

Trotz der technischen Fähigkeiten der Ingenieure kann ihr Roboter plötzliche Bewegungen wie schnelle Richtungswechsel (noch) nicht vorhersagen: «Wir können nicht wirklich simulieren, wie sich Menschen in verschiedenen Situationen verhalten werden, weil jeder anders reagiert. Deshalb müssen wir Qolo unter realen Bedingungen testen», sagt Paez. Deshalb läuft der Versuch auf dem Markt in Lausanne.

Diego Paez, Post-Doktorand am LASA, testet den Qolo-Roboter-Rollstuhl im Herzen von Lausanne © Alain Herzog / 2021 EPFL

Dort können die Ingenieure wertvolle Rückmeldungen zu allen Systemen des Roboters – von der Hardware bis zu den Algorithmen – und zum Benutzererlebnis erhalten. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend: Die Fussgänger scheinen sich in der Nähe des Roboters normal zu verhalten, was ein großes Plus für die Datenerfassung ist: «Wir müssen die Daten noch analysieren, aber es scheint, dass die halbautonome Dimension des Roboters gut funktioniert», sagt Paez. Billard fügt hinzu: «Die Benutzer steuern Qolo, indem sie ihren Oberkörper bewegen, um die Richtung anzugeben, in die er gehen soll. Wenn plötzlich ein Hindernis auftaucht, reagiert der Roboter sofort und weicht ihm aus. Diese Art der unterstützten Navigation kann für behinderte Menschen ein echter Vorteil sein.»

Risikobewusstsein

Angesichts des rasanten Fortschritts in der Robotik könnten wir immer mehr solcher Geräte auf unseren Strassen und Gehwegen sehen – zum Beispiel Lieferroboter. Das LASA-Team betont jedoch einen entscheidenden Punkt: Es müssen wirksame Methoden entwickelt werden, um die Wahrscheinlichkeit von Kollisionen und anderen Unfällen zu minimieren: «Crashtests haben gezeigt, dass das Verletzungsrisiko hoch sein kann und manchmal über das hinausgeht, was für Autos zulässig ist», sagt Paez.

«Jetzt müssen wir an einem Kontrollsystem arbeiten, um dieses Risiko zu mindern, sei es durch eine geringere Geschwindigkeit des Roboters oder durch eine bessere Stoßdämpfung», sagt Billard, «und es ist wichtig, dass diese Erkenntnisse bei künftigen Gesetzen berücksichtigt werden. Diese Gesetze könnten eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Assistenzroboter wie Qolo vorsehen oder den Einsatz bestimmter Fahrzeugtypen wie Lieferroboter in stark frequentierten Bereichen einschränken.