Verborgene Zustände des Gehirns

Psychische Krankheiten lassen sich nur anhand von Symptomen diagnostizieren und individuelle Verläufe nicht genau vorhersagen. Ein ETH-Wissenschaftler möchte das mithilfe mathematischer Modelle ändern.
Dank funktioneller Magnetresonanz-​Tomografie (fMRI) werden Gehirnaktivitäten sichtbar. (Bild: ETH Zürich / Sandra Iglesias)

Warum gibt es überhaupt Emotionen? Klaas Enno Stephan, Professor an der ETH und der Universität Zürich muss weit ausholen, um diese Frage zu beantworten: «Mir scheint es sehr plausibel, dass Emotionen dazu da sind, unbewusste Prozesse, die im Körper ablaufen, bewusst zu machen.» Der Mediziner interessiert sich in seiner Forschung unter anderem für das Zusammenspiel von Gehirn und Körper. Er macht ein Beispiel: Beim Anblick von Nahrung schüttet der Körper Insulin aus – noch vor dem ersten Bissen und dem Anstieg des Blutzuckerspiegels. «Wir steuern diese körperliche Reaktion aber nicht bewusst», sagt Stephan.

Unser Gehirn zieht permanent Schlüsse aus der Umwelt und aktualisiert sie laufend. «Das Gehirn baut Modelle der Welt und macht daraus Vorhersagen», erklärt Stephan. Mehr noch: Basierend auf den Vorhersagen führt es Kontrollhandlungen aus, wie beispielsweise die Insulinausschüttung vor dem Essen. «Das Gehirn hat dabei ein übergeordnetes Ziel: den Körper in Homöostase zu halten», so der Mediziner. Homöostase bezeichnet das Gleichgewicht wichtiger Körperfunktionen wie Blutzuckerspiegel, Thermoregulation, Blutdruck oder Säure-Basen-Haushalt. Gerät dieses Gleichgewicht ins Wanken, greift das Gehirn regulierend ein – meist unbemerkt.

Befinden wir uns aber in einer akuten Bedrohungssituation, die die Homöostase gefährdet, ist es sinnvoll, dies auch auf bewusster Ebene wahrzunehmen. «Es ist sehr plausibel, dass Emotionen Zustände des Bewusstseins sind, die mit ganz bestimmten Handlungen vergesellschaftet sind, um die Körperfunktionen zu erhalten», sagt Stephan. «Angst beispielsweise macht uns auf der bewussten Ebene klar: Hier sind Gefährdungen, auf die wir jetzt bedingungslos reagieren müssen.»

Erwartungsmanagement

Doch Angst ist nicht immer nur akut. Es gibt Menschen, die leiden dauerhaft unter erhöhter Angst. Eine Erklärung dafür könnten zu genaue Vorhersagen sein. «Baut mein Gehirn ein Modell, das erwartet, dass mein Herz absolut regelmässig schlägt, wird diese Erwartung beim Abgleich mit der Realität nicht erfüllt. Dies löst Angst aus.» Schon kleinste, natürliche

Abweichungen werden dann als bedrohlich erlebt und der gesunde Körper wird ständig als in Gefahr wahrgenommen. Die Homöostase scheint im Ungleichgewicht und es kommt zu Kontrollhandlungen. Aber durch den Versuch, das Herz zu kontrollieren, schlägt es nur noch schneller und unregelmässiger. Eine Negativspirale, beschleunigt durch den Sympatikus, jenen Teil des Nervensystems, der in Stresssituationen Kräfte mobilisiert.

Masterprogramm für Hirnforschung

Die ETH Zürich bietet gemeinsam mit der Universität Zürich seit dem Herbstsemester das neue interdisziplinäre Masterprogramm «Interdisciplinary Brain Sciences» an. Der Studiengang kombiniert Biologie, Neurowissenschaften und klinische Methoden.

Zur Person

Klaas Enno Stephan ist Professor für Translational Neuromodeling und Computational Psychiatry an der ETH Zürich am Departement Informationstechnologie und Elektrotechnik und an der Universität Zürich.

Weitere Informationen

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/01 des ETH-​​​​​Magazins Globe erschienen.