Kehrichtverbrennungs-anlagen haben Klimaschutzpotenzial

Das Klimaschutzpotenzial einer CO2-Abscheidung bei der Verwertung von Siedlungsabfällen ist beträchtlich, haben ETH-Forschende berechnet. Möchte man dieses Potenzial in der Praxis voll ausschöpfen, lauern allerdings Herausforderungen.  
Greifkran in der Kehrichtverbrennungsanlage Hagenholz, Zürich. (Bild: Keystone/Gaetan Bally)

Wirtschaft und Gesellschaft werden in den kommenden Jahrzehnten die Treibhausgasemissionen drastisch reduzieren. So sieht es das Pariser Klimaschutzabkommen vor. Doch auch eine künftige «Low Carbon Economy» wird Treibhausgase ausstossen, so zum Beispiel bei der Herstellung von Zement und Stahl, bei der Viehzucht und im Ackerbau, sowie in der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Um die Klimaziele einzuhalten, müssen diese Emissionen kompensiert werden. Dazu bedarf es sogenannter Negativemissionstechnologien, mit denen CO2 der Atmosphäre entzogen und in unterirdischen Lagerstätten gespeichert wird.

Forschende der ETH Zürich haben nun das Potenzial einer dieser Technologien für Europa berechnet: der Kombination von Energiegewinnung aus Biomasse mit CO2-Abscheidung und ‑Speicherung (engl. bioenergy with carbon capture and storage, BECCS). Das Fazit der Berechnungen: Würde BECCS vollumfänglich genutzt, liessen sich die CO2-Emissionen in Europa um 200 Millionen Tonnen pro Jahr reduzieren. Das sind 5 Prozent der europäischen Emissionen im Jahr 2018 und ein substanzieller Anteil an die kumulativ 7,5 Milliarden Tonnen CO2, welche Europa bis 2050 einsparen muss, um die Klimaziele zu erreichen. Allerdings – darauf weisen die Studienautoren auch hin – dürfte es herausfordernd werden, das errechnete Potenzial von BECCS in der Praxis voll auszuschöpfen.

Technologie einsatzbereit

Unter BECCS fällt die Abscheidung von CO2 an Punktquellen, wo dieses aus biologischem Material entsteht. Das grösste Potenzial liegt in Europa bei Betrieben der Papier- und Zellstoffindustrie. Ebenfalls ins Gewicht fallen Kehrichtverbrennungsanlagen (rund die Hälfte des Abfalls ist Biomasse), mit Holz betriebene Blockheizkraftwerke sowie Biogasanlagen, in denen nicht zum Essen taugliche pflanzliche und tierische Nebenprodukte aus der Nahrungsmittelproduktion oder kompostierbare Siedlungsabfälle genutzt werden. Weitere Quellen sind Kläranlagen sowie die Jauchegruben von Landwirtschaftsbetrieben.

«Die Technologie, um CO2 an solchen Punktquellen abzuscheiden, ist einsatzbereit», erklärt Marco Mazzotti, Professor am Institut für Energie- und Verfahrenstechnik und Leiter der Studie. Das CO2 müsste dann über ein noch zu erstellendes Netzwerk – zum Beispiel in Pipelines – in Speicherstätten transportiert werden. «Dies ist eine grosse Herausforderung», sagt Lorenzo Rosa, Wissenschaftler in Mazzottis Gruppe und Erstautor der Studie. Denn das CO2 fällt dezentral in ganz Europa an. Geeignete Speicherstätten befinden sich nur an wenigen Orten, weit entfernt von den CO2-Punktquellen, zum Beispiel unter dem Meeresboden der Nordsee. Allerdings sei diese Herausforderung lösbar, wenn ein solches Transportnetz nun so schnell wie möglich aufgebaut werde, sagt Rosa.

Papierindustrie

Wie die Berechnungen der ETH-Forschenden zeigten, unterscheidet sich das Potenzial von BECCS von Land zu Land stark. Das Extrembeispiel ist Schweden, das eine starke Papierindustrie hat. Schweden könnte mit BECCS beinahe dreimal so viel CO2 aus Biomasse (und somit atmosphärischem) Ursprung abscheiden wie es heute CO2 fossilen Ursprungs ausstösst. «Schöpft Schweden sein ganzes BECCS-Potenzial aus, könnte es Emissionshandelszertifikate verkaufen und damit Emissionen anderer Länder ausgleichen», sagt Rosa. Finnland und Estland könnten – ebenfalls dank einem starken Papiersektor – immerhin die Hälfte ihrer CO2-Emissionen reduzieren. In vielen weiteren europäischen Ländern ist das Potenzial geringer: bei einer Emissionsreduktion um die 5 Prozent oder weniger.

Für ihre Berechnungen berücksichtigten die ETH-Wissenschaftler ausschliesslich Biomasse, die als Nebenprodukt der Industrie oder Landwirtschaft oder als Abfall anfällt. Den Anbau von Nutzpflanzen mit dem primären Ziel der Energiegewinnung, der in anderen Weltregionen stärker praktiziert wird als in Europa, klammerten sie bewusst aus. Denn dieser steht in Konkurrenz zum Ackerbau für die Nahrungsmittelproduktion und gilt somit als wenig nachhaltig. «Der weltweite Nahrungsmittelbedarf wird sich bis 2050 verdoppeln. Wir benötigen daher dringend BECCS-Ansätze, die nicht auf Bioenergie-Plantagen beruhen», sagt Rosa.

Müll als Rohstoff

In der Schweiz liegt das BECCS-Potenzial bei einer Emissionsreduktion von rund 6 Prozent. Einen Grossteil davon könnten hierzulande die Kehrichtverbrennungsanlagen ausmachen. «In vielen anderen Regionen Europas hingegen liegt dieses Potenzial brach, da Müll ungenutzt in Deponien abgelagert wird», sagt ETH-Professor Mazzotti.

Kehrichtverbrennungsanlagen erfüllen schon heute drei wichtige Funktionen: Sie entsorgen Abfall, rezyklieren Rohstoffe, sofern dies möglich ist, und sie generieren Fernwärme und Elektrizität. «Nun kommt eine vierte Funktion dazu: Kehrichtverbrennungsanlagen mit CO2-Abscheidung können als wesentliche Negativemissionsanlagen dazu beitragen, den CO2-Fussabdruck unserer Gesellschaft zu reduzieren», so Mazzotti. Derzeit wird dieses Potenzial nicht genutzt. In Papierwerken, Kehrichtverbrennungs- und Biogasanalagen wird in der Regel noch kein CO2 abgeschieden. Nach Ansicht der ETH-Forschenden sollte man damit baldmöglichst beginnen.

Literaturhinweis

Rosa L, Sanchez DL, Mazzotti M: Assessment of carbon dioxide removal potential via BECCS in a carbon-neutral Europe. Energy & Environmental Science 2021, doi: 10.1039/D1EE00642H