Ein echter Kenner geometrischer Formen

Er untersucht die Rätsel von Formen und Krümmungen in höheren Dimensionen: Der Mathematiker Alessandro Carlotto erhält für seine originelle Forschung an der Grenze von Mathematik und Physik den Latsis-Preis der ETH Zürich 2022.
In eigens hergestellten Modellen zeigt Alessandro Carlotto, welche Formen komplexere Minimalflächen zwischen zwei Flüssigkeiten annehmen können. (Bild: Latsis Stiftung / Universität Genf)

In seiner Forschung bewegt sich Alessandro Carlotto oft an der Grenze zwischen Mathematik und Physik: Seine Perspektive ist die der geometrischen Analysis, die – vereinfacht gesagt – Werkzeuge der mathematischen Analysis einsetzt, um die Gestalt von Objekten im Raum zu untersuchen und wie sie sich mit der Zeit und unter dem Einfluss der Krümmung verformen. Alessandro Carlotto gilt in diesem Forschungsgebiet als aufstrebender Star und «der beste junge Forscher in Kontinentaleuropa». Nun wird Alessandro Carlotto am ETH-Tag den Latsis-Preis der ETH Zürich 2022 erhalten.

Der Preis würdigt, dass der italienische Mathematiker eine sehr eigenständige und reichhaltige Forschungsagenda verfolgt, ein ausgezeichneter Dozent ist, und nicht zuletzt 2020 auch einen ERC Starting Grant erhalten hat, der als ein Gütesiegel exzellenter Forschung gilt. In ihrer Laudatio begründet die ETH-Forschungskommission Carlottos Auszeichnung wie folgt: «Seine tiefgreifenden und höchst originellen Ergebnisse decken ein breites Spektrum von der Differentialgeometrie bis zur allgemeinen Relativitätstheorie ab. Seine wissenschaftliche Arbeit hat nicht nur einen starken Einfluss auf die Mathematik, in der er zahlreiche, seit langem bestehende Probleme angepackt hat, sondern auch auf die Theoretische Physik.»

Modelle der Physik zu Ende denken

Tatsächlich sind Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie und mathematische Probleme aus der Physik eine Inspiration für Carlotto: «Das Zusammenspiel von Mathematik und Physik fasziniert mich sehr, und mir gefällt die Vorhersagekraft des mathematischen Denkens.» In seiner Forschung beginnt er in der Regel mit einem gegebenen physikalischen Modell, das bestimmte Naturphänomene beschreibt. Im Unterschied zu einer Physikerin oder einem Physiker befasst er sich jedoch weniger damit, ein jeweiliges Modell anhand empirischer Daten zu überprüfen oder zu verfeinern, sondern er untersucht – allein mit der Kraft der Abstraktion –, welche mathematischen Konsequenzen sich daraus ergeben und was die daraus hergeleiteten Ergebnisse über die entsprechenden Phänomene aussagen.

Diesem Ansatz folgend, hat er – gemeinsam mit seinem Doktorvater, dem Heinz-Hopf-Preisträger von 2017, Richard M. Schoen von der Stanford University und der University of California, Irvine – neuartige, sogenannte lokalisierte Lösungen der Einstein’schen Feldgleichungen entdeckt. Diese Gleichungen beschreiben die Gravitationskräfte im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie. Diese Theorie ist inzwischen gut etabliert. 100 Jahre nach der Veröffentlichung der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein konnten Carlotto und Schoen 2015 streng beweisen, dass es Raumzeiten gibt, die die Einstein’schen Feldgleichungen erfüllen, und die grosse, unbegrenzte Regionen haben, in denen keine Gravitation spürbar ist, während sie zugleich Regionen mit schwarzen Löchern enthalten, in denen daher extrem starke Gravitationskräfte wirken. In der Forschung wird dieses Phänomen als Abschirmung der Gravitation bezeichnet, weil die Objekte in den erstgenannten Regionen vollständig gegen den Einfluss des Gravitationsfeldes der letztgenannten Regionen abgeschirmt sind. In der klassischen Newton’schen Feldtheorie ist das unmöglich.

Carlotto und Schoens Ergebnis veranschaulicht die besagte Vorhersagekraft der Mathematik, da ihre Arbeit die Gravitationsabschirmung vorstellt, bevor es ein anerkanntes, wiederholbares Experiment gibt, das sie empirisch nachweisen könnte. «Unsere Lösungen stimmen mit den Axiomen der Allgemeinen Relativitätstheorie vollkommen überein. Sie weisen jedoch explizit neue Phänomene auf, und zwar in einer Weise, die sehr überraschend und kontraintuitiv ist», sagt Carlotto.

Rätselhafte Formen und Krümmung

Durchwegs wesentlich für seine Forschung sind – trotz der Vielfalt der Themen – die Begriffe Form und Krümmung. Im einfachsten Sinn verstehen Mathematiker unter Krümmung die lokale Abweichung einer Kurve von einer Geraden. Im dreidimensionalen Raum, mit dem die Menschen im Alltag vertraut sind, haben zum Beispiel die Oberfläche einer Kugel eine konstante Krümmung (im Unterschied zu der eines Doughnuts) und ebenso die Ebene (mit dem Unterschied, dass die Kugel positiv gekrümmt ist).

In der Mathematik ist es naheliegend und fast notwendig, von zweidimensionalen Räumen zu höherdimensionalen Räumen zu abstrahieren und verallgemeinerte Krümmungsbegriffe für Gegenstände mit drei oder mehr Dimensionen zu formulieren. Auch hierzu bietet Albert Einstein gute Anregung: Der Physik-Nobelpreisträger von 1921 beschrieb ebenfalls mit der Sprache der Differentialgeometrie die Krümmung der Raumzeit, die in der Tat der vierdimensionale «Schauplatz» ist, auf dem sich die Ereignisse abspielen, und damit der Hintergrund für seine berühmte Theorie der Gravitation. Weitere gute Gründe, um zu höheren Dimensionen aufzusteigen, liefern die Stringtheorie sowie andere Theorien der heutigen Physik. «In diesen höheren Dimensionen sind die Dinge in vielerlei Hinsicht noch rätselhaft», sagt Carlotto.

Von allen Begriffen der Krümmung, das heisst von allen Möglichkeiten, die Form von Räumen (gleich welcher Dimension) zu messen, favorisiert Carlotto die sogenannte Skalarkrümmung. Sie ist der Gegenstand in zwei seiner jüngsten, einflussreichen Arbeiten. «In letzter Zeit habe ich viel über ‹Lösungsräume› für bestimmte geometrische Probleme nachgedacht und darüber, wie sie ‹im Grossen› aussehen», legt Carlotto dar.

«Mir gefällt die Vorhersagekraft des mathematischen Denkens.»      Alessandro Carlotto

2021 schloss er zum Beispiel ein vier Jahre dauerndes Projekt mit Chao Li ab, einem Forscher des Courant Instituts an der New York University. Sie bewiesen – aufbauend auf den Pionierarbeiten vieler Forscher (namentlich Hamilton, Perelman, Kleiner, Lott, Bamler) –, dass auf jeder kompakten dreidimensionalen Mannigfaltigkeit der Raum der Metriken positiver Skalarkrümmung mit minimalem Rand entweder leer oder zusammenziehbar ist. «Mit einfachen Worten: Verformungen, die diese von der Krümmung vorgegebenen Einschränkungen respektieren, sind im stärkstmöglichen Sinne ungehindert. In diesem Beweis kommen viele der Werkzeuge zum Einsatz, die ich in meiner Laufbahn erlernt habe», erklärt Carlotto.

Das Geheimnis der Grenzflächen

Carlottos Forschung beschränkt sich nicht auf die mathematische Physik: «Mich reizt es, immer wieder über neue Probleme nachzudenken», sagt er, «und wie Albert Einstein denke ich, dass der wissenschaftliche Fortschritt eine opportunistische Einstellung erfordert.»

In den letzten Jahren hat sich sein Forschungsinteresse auf verschiedene klassische Themen und Probleme der Differentialgeometrie erstreckt. So hat er die sogenannten Minimalflächen eingehend untersucht, deren veranschaulichendes Modell die Seifenhäute sind. Klassischerweise stellen sie Flächen dar, die den Flächeninhalt (in etwa vergleichbar mit der «elastischen Energie») von allen Oberflächen mit demselben Rand so klein wie möglich machen.

Derartige Minimalflächen und ähnliche Grenzflächen treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Betrachten wir das folgende idealisierte Modell: zwei nicht mischbare Flüssigkeiten sind in einem kugelförmigen Behälter, die jeweils die Hälfte des Volumens ausmachen, und nehmen wir an, die Schwerkraft sei im Vergleich zu den anderen wirkenden Kräften vernachlässigbar. In solch einem Fall gibt es energetisch optimale Grenzflächen, die die Flüssigkeiten trennen. In einem Fischglas, das zu gleichen Teilen mit Luft und Wasser gefüllt ist, wäre die einfachste Grenzfläche (nämlich die mit der kleinstmöglichen Fläche) eine flache Scheibe, die durch die Mitte des Glases verläuft.

Mathematikerinnen und Mathematiker fragen nun: Welche Gleichgewichtskonfigurationen sind möglich, und welche Formen können diese Grenzflächen haben? Die Frage, wie mögliche andere, «exotische» Grenzflächen aussehen können, beschäftigt die Mathematikerinnen und Mathematiker seit fast 40 Jahren. 2020 haben Alessandro Carlotto, Giada Franz und Mario Schulz dieses Problem gelöst und bewiesen, dass es in einer euklidischen Kugel tatsächlich unendlich viele weitere, komplexe Gleichgewichtszustände gibt. Deren Grenzflächen werden von Minimalflächen mit zusammenhängendem Rand auf der Oberfläche der Kugel und einer beliebigen Anzahl von «Henkeln» gebildet. Mario Schulz, einer von Carlottos engsten Mitarbeitern und Alumnus der ETH Zürich, hat genaue numerische Annäherungen an solche Oberflächen entwickelt, die sich unter anderem mit einem 3D-Drucker ausdrucken lassen und so konkrete, anfassbare Modelle für solche exotisch anmutenden Oberflächen liefern (siehe Bilder unten).

Alessandro Carlotto erhält den Latsis-Preis 2022 der ETH Zürich für seine bahnbrechenden Beiträge zur Geometrischen Analysis. Im Video schildert er seinen Forschungsansatz. (Video: Latsis Stiftung / Universität Genf)

Wie der Fields-Medaillen-Träger von 2018, Alessio Figalli, hat Alessandro Carlotto die Scuola Normale Superiore in Pisa absolviert: «La Normale - wie wir auf Italienisch oft sagen - ist ein ganz besonderer Ort, der mein Leben in vielerlei Hinsicht verändert hat.»

Der emeritierte Mathematikprofessor Michael Struwe äussert sich zu Carlottos Auszeichnung wie folgt: «Alessandro ist in seinem noch recht jungen Alter bereits ein vollendeter Mathematiker. Er hat einen umfassenden Überblick nicht nur über das Gebiet der Geometrischen Analysis, sondern auch über die moderne Mathematik insgesamt, die eine seiner Leidenschaften ist», und er fügt hinzu: «Alessandro leistet wertvolle Dienste für das Departement. Seine sehr engagierte Rolle als akademischer Lehrer wird vielleicht am besten dadurch veranschaulicht, dass er, in Anerkennung der Hilfe, die er den Studierenden in den schwierigsten Phasen der Pandemie zukommen liess, und angesichts des überwältigend positiven Feedbacks auf sein Engagement, eingeladen wurde, in der Reihe ‹Refresh Teaching› der ehemaligen Rektorin Sarah Springman einen Vortrag zum Thema ‹Connecting to your students› zu halten.»

Carlotto war 2015 als Junior Fellow des Instituts für Theoretische Studien an die ETH Zürich gekommen. Im Mai 2016 ernannte ihn der ETH-Rat zum Assistenzprofessor für Mathematik. Ende August 2022 ist er nun nach Italien zurückgekehrt, um eine Professur an der Università degli Studi di Trento anzutreten.  

Literaturhinweis

Carlotto, A., Schoen, R. Localizing solutions of the Einstein constraint equations. Inventiones Mathematicae 205, 559-615 (2016). DOI: 10.1007/s00222-015-0642-4

Ambrozio, L., Carlotto, A., Sharp, B. Comparing the Morse index and the first Betti number of minimal hypersurfaces. Journal of Differential Geometry 108 (3), 379-410, March 2018. DOI: 10.4310/jdg/1519959621

Carlotto, A., Li, C. Constrained deformations of positive scalar curvature metrics, II. arXiv:2107.11161v2 [math.DG]. DOI: 10.48550/arXiv.2107.11161

Carlotto A., Franz, G., Schulz, M.B. Free boundary minimal surfaces with connected boundary and arbitrary genus. Cambridge Journal of Mathematics, 10 (4), 835-857, 2022. DOI: 10.4310/CJM.2022.v10.n4.a3