Schweiz – EU: Wie weiter?

Nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen skizzieren ETH-Forschende einen dreistufigen Plan zur Weiterentwicklung einer konstruktiven Partnerschaft zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.
Wie werden die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU künftig ausgestaltet? (Bild: Keystone/SDA)

Mehr als zwei Monate nach der Entscheidung des Bunderates, die Verhandlungen zum Rahmenabkommen abzubrechen, ist es ruhig geworden um die zukünftigen Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union. Trotz des Beschlusses der EU-Kommission, die Schweiz in den EU-Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation als nicht-​​assoziierten Drittstaat zu behandeln (siehe ETH-News vom 14.7.2021), spricht kaum jemand mehr davon, wie es nun weitergehen soll.

Diese sommerliche Stille wird nun von zwei ETH-Forschenden durchbrochen. In einem neuen Diskussionsbeitrag zeigen ETH-Professor Michael Ambühl und die Postdoktorandin Daniela Scherer von der Professur für Verhandlungsführung auf, welche Optionen aus verhandlungstheoretischer Sicht am ehesten Erfolg versprechen. «Wir haben einen dreistufigen Plan skizziert, wie sich die Partnerschaft zwischen der Schweiz und der EU nach dem Abbruch der Verhandlungen im Mai weiterentwickeln könnte», erklärt Ambühl.

Vertrauen durch unilaterale Massnahmen stärken

In einem ersten Schritt soll das gegenseitige Vertrauen zwischen der Schweiz und der EU durch unilaterale Massnahmen gestärkt werden. Die Autoren empfehlen, dass der Bundesrat zunächst, wie er das bereits begonnen hat, den Austausch mit Brüssel und mit den europäischen Hauptstädten intensiviert.

Zudem wäre es gemäss den Autoren sinnvoll, dass das Parlament die sogenannte Kohäsionsmilliarde freigibt, die Personenfreizügigkeit mit Kroatien vollständig normalisiert und enger mit der EU in der Pandemiebewältigung und beim Klimaschutz zusammenarbeitet. In dieser Stufe müsste ausserdem alles darangesetzt werden, so Scherer, «dass die Forschungszusammenarbeit wieder den ihr gebührenden Platz einnehmen kann.»

Europapolitische Vision klären

In der zweiten Stufe von Ambühl und Scherers Plan soll der Bundesrat eine innenpolitisch möglichst breit abgestützte Erklärung erarbeiten, wie er die bilaterale Partnerschaft mit der EU in Zukunft gestalten will. Diese müsste daher auch vom Schweizer Parlament in Form einer Erklärung oder eines Planungsbeschlusses abgesegnet werden.

«Die vom Parlament getragenen europapolitischen Vision würde die Glaubwürdigkeit des Bundesrats gegenüber der EU stärken und den Weg für weitere Verhandlungen ebnen», so Scherer. In ihr käme zum Ausdruck, dass die Schweiz bereit sei, im Rahmen eines Gesamtpaketes eine neue institutionelle Regelung für den bilateralen Weg auszuhandeln, die auch den Besonderheiten der Schweiz als Nicht-Mitglied Rechnung gebührend trägt.

Ein neues Verhandlungspaket schnüren

In der dritten Stufe sieht der Plan vor, dass die Schweiz erneut Verhandlungen mit der EU aufnimmt. Um die Verhandlungsmasse zu vergrössern und dadurch einen Interessenausgleich zwischen beiden Parteien zu vereinfachen, müsste ein Verhandlungspaket möglichst breit geschnürt sein.  Sollte das für die Assoziierung zu Horizon Europe notwendige «Umbrella Agreement» bis dann noch nicht ausgehandelt sein, müsste dies spätestens hier erfolgen.

Ein Kernbestandteil dieses fünf Bereiche umfassenden Gesamtpakets, das die Autoren Bilaterale III nennen, bleibt aber neben der Anpassung bestehender Abkommen, der Zusicherung für neue Abkommen, einer Erhöhung des Kohäsionsbeitrages und der Institutionalisierung eines regelmässigen Dialoges auf Ministerebene vor allem die Neuverhandlung einer institutionellen Basis für ausgewählte bestehende und zukünftige Marktzugangsabkommen. Diese Basis müsste sich den Autoren zu Folge aber in einigen Punkten vom Entwurf des Rahmenabkommen abheben.

Rechtsübernahme ohne Super-Guillotine

Vor diesem Hintergrund empfehlen Ambühl und Scherer, dass die Schweiz bei der dynamischen Rechtsübernahme unter anderem in den vitalen Bereichen des Lohnschutzes, der Unionsbürgerrichtlinie und der staatlichen Beihilfen von Anfang an auf Ausnahmen, sogenannte Opt-Outs, bestehen sollte.

Darüber hinaus schlagen die Autoren vor, dass die dynamische Anpassung an EU-Recht nicht wie beim Rahmenabkommen durch einen separaten Vertrag, sondern durch eine Revision der bestehenden Abkommen geregelt würde. Dies hätte für Scherer und Ambühl den Vorteil, dass es keine Erweiterung der in den bestehenden Abkommen bereits vorgesehenen Kündigungsbestimmungen, der sogenannten Guillotinen-Klausel, gäbe.

Streitbeilegung ohne den Europäischen Gerichtshof

Zu guter Letzt zeigen Scherer und Ambühl auch bei der Streitbeilegung eine alternative Variante ohne formale Beteiligung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf. Übernimmt die Schweiz neues EU-​Recht nicht, wäre es der EU gestattet, ohne vorheriges Anrufen eines Gerichts Ausgleichsmassnahmen gegen die Schweiz zu beschliessen. Allerdings hätte die Schweiz dann die Möglichkeit, von einem unabhängigen Schiedsgericht prüfen zu lassen, ob die getroffenen Ausgleichsmassnahmen angemessen sind.

Innenpolitisch könnte dieses weniger stark verrechtlichte Vorgehen einen Streitpunkt beseitigen, ohne die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofes zu beschneiden. Im Übrigen ist ein ähnliches Streitbeilegungsverfahren zwischen der Schweiz und der EU bereits in Kraft: Die EU hat ihm im Zollsicherheitsabkommen von 2009 zugestimmt.

Politische Machbarkeit

Doch wie realistisch sind diese Vorschläge? Sowohl bei der Streitbeilegung als auch bei der von Ambühl und Scherer vorgeschlagenen Rechtsübernahme mit Ausnahmen stellt sich die Frage, warum die EU in Zukunft darauf eingehen sollte, wenn sie doch genau dies bis jetzt abgelehnt hat. «Weil es letztlich in ihrem eigenen Interesse ist», erklärt Scherer. Denn für die Autoren enthalten die auf allen drei Stufen skizzierten Massnahmen wesentliche Konzessionen zu Gunsten der EU und somit eine klare Verbesserung des Status quo für die EU.

Auch muss es sich Schweiz-intern noch erweisen, dass ein breiter Konsens angesichts der im Europadossier vorherrschenden politischen Differenzen erreichbar ist. Doch die Autoren sind auch in diesem Punkt weniger pessimistisch als andere Kommentatorinnen und Kommentatoren: Ein Paket, das keine explizite Rolle für den EuGH vorsieht, die Guillotinen-Klausel nicht erweitert und Ausnahmen in wichtigen Bereichen erlaubt, sollte auch innenpolitisch auf grössere Akzeptanz stossen.