«Es handelt sich um einen historischen Bruch»

Russland hat in der Nacht auf Donnerstag die Ukraine angegriffen. ETH-Forscher Benno Zogg vom Center for Security Studies über die Ziele von Präsident Putin, die Wirksamkeit von Sanktionen und die Folgen der Invasion für die europäische Sicherheit.
Die Ukraine vor Russlands Invasion am 24. Februar 2022. Präsident Putin nimmt das Land weder als souveränen Staat noch als eigenständiges Volk wahr. (Bild: Center for Security Studies / ETH Zürich).

Herr Zogg, welche Ziele verfolgt Präsident Putin mit dem Einmarsch in der Ukraine?

Benno Zogg: Wir wissen noch nicht, ob Putin begrenzte oder maximale Ziele verfolgt. Klar ist aber, dass er die Ukraine zu einem gefügigen und von Russland abhängigen Land machen will, das dauerhaft ausserhalb der NATO und der Europäischen Union bleibt. Sofern die Ukraine überhaupt noch als Staat bestehen soll. Von einer Teilbesetzung bis hin zu einer vollen Annexion der Ukraine ist alles denkbar. 

Was treibt ihn an?

Putin schaut auf die Ukraine als Land hinab. Er nimmt sie weder als souveränen Staat noch als eigenständiges Volk wahr, sondern sieht sie als Teil der russischen Kultur und Geschichte. Jegliche Westorientierung kann in seinem Weltbild nur das Resultat westlicher Einmischungsversuche sein. Wenn er davon spricht, dass russische Truppen nun als Befreier begrüsst werden, ist das durchaus ernst zu nehmen. Zudem will Putin Russland wieder zu einer Grossmacht machen. Eine Grossmacht, so seine Lesart, wird nicht unbedingt bewundert, sondern gefürchtet.

Was bedeutet diese Eskalation für Russlands europäische Nachbarstaaten?

Diese werden sich jetzt umso mehr von Russland bedroht fühlen und für militärischen Beistand nach Westen und in Richtung ihrer NATO-Partner schauen. NATO-Mitgliedsstaaten wie Polen, Estland oder Lettland, die eine direkte Grenze mit Russland teilen, werden in Zukunft vermehrt auf die Präsenz von US-amerikanischen Truppen im Land pochen. Insgesamt wird die NATO weiter zusammenrücken und an Bedeutung gewinnen, auch bei neutralen Nichtmitgliedern wie Finnland und Schweden. Ich fürchte ausserdem, dass es zu einer zunehmenden Militarisierung Osteuropas kommen wird. Das Potenzial für weitere Eskalationen – gewollte oder ungewollte - steigt.

Der Westen diskutiert nun über neue Sanktionen gegen Russland. Wie müssten diese aussehen, damit Russland seinen militärischen Kurs ändert?

Gemäss Forschung bewirken Sanktionen nur eine Politikänderung, wenn sie einen Einfluss auf die Koalitionen und Machtverhältnisse im sanktionierten Land haben. Man kann also davon ausgehen, dass Putin seinen Kurs nur ändern würde, wenn Sanktionen die Führungselite im Kreml spalten. Das ist sehr unwahrscheinlich, denn der innere Zirkel um Putin dürfte bereits jetzt resistent gegen Sanktionen sein und könnte sogar von ihnen profitieren. Kurzfristig sind Sanktionen als wichtiges politisches Signal zu sehen. Mittel- bis langfristig können ökonomische, finanzielle und technologische Sanktionen die russische Wirtschaft, den Staatshaushalt, die Rüstungsindustrie und damit auch die Armee aber sehr wohl schwächen. Dass sich Putin dadurch abschrecken lässt, wage ich aber zu bezweifeln.

Wird es beim Krieg in der Ukraine bleiben?

Durch unbeabsichtigte Zwischenfälle an der Grenze zu Nachbarstaaten können auch andere Länder in den Konflikt hineingezogen werden. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass die Kampfhandlungen auf die Ukraine beschränkt bleiben. Die Auswirkungen des Konflikts gehen aber natürlich weit über die Ukraine hinaus und betreffen uns alle.

Welche diplomatischen Möglichkeiten sehen Sie aktuell?

Aktuell beschränkt sich Diplomatie auf einseitige Erklärungen, Pressekonferenzen und eben Sanktionen. Obwohl direkte hochrangige Treffen zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen in der jetzigen Situation undenkbar sind, sollten die Kommunikationskanäle offenbleiben, um ein Mindestmass an Vorhersehbarkeit zu gewährleisten. Ein Ausschluss Russlands aus der UNO oder der OSZE wäre nicht zielführend.

Welche Auswirkungen hat die Invasion auf die europäische Sicherheit?

Es handelt sich um einen historischen Bruch: Nationale Grenzen einseitig und durch militärische Mittel zu verschieben und Territorium zu annektieren widerspricht fundamental der europäischen Nachkriegsordnung. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 wird dieses Prinzip nun erneut von Russland gebrochen. Die Legitimation westlicher Interventionen, wie etwa im Kosovo oder im Irak, war zwar auch umstritten, doch Putins Angriff entbehrt jeglicher Grundlage. Es bleibt abzuwarten, ob Konflikte in Europa in Zukunft wieder vermehrt machtpolitisch und militärisch gelöst werden. Sicher ist aber, dass es zu einer Aufwertung militärischer Fähigkeiten in Europa kommen wird. Europa kann sich dabei in Zukunft noch weniger auf die USA verlassen, deren sicherheitspolitischer Fokus längerfristig auf China liegt. Der Druck auf Europa, die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken, wird weiter wachsen.