Ohne Tierversuche geht es nicht

Die ETH Zürich und die anderen Schweizer Hochschulen engagieren sich, um Stress und Leid von Versuchstieren zu verringern. Ein Verbot von Tierversuchen, wie es eine im Februar zur Abstimmung kommende Volksinitiative fordert, würde aber den medizinischen Fortschritt verunmöglichen.
Für die Mäuse ist es möglicherweise weniger stressig, wenn sie mit solchen Plexiglasröhren von einem Käfig in einen anderen versetzt werden. Ob das auch praktikabel ist, wird an der ETH derzeit untersucht. (Bild: ETH Zürich / Alessandro Della Bella)

Johannes Bohacek versucht sorgfältig, eine Maus in einem Käfig in eine Plexiglasröhre zu schubsen. Der ETH-Professor ist Stressforscher und untersucht dazu Mäuse. Neben seiner Hauptforschungstätigkeit arbeitet er an einer kleinen ETH-Studie mit, in der es um diese Plexiglasröhren geht. Normalerweise greifen Tierversuchsdurchführende eine Maus nämlich am Schwanz, um sie von einem Käfig in einen anderen zu versetzen. Das kann eine Maus leicht stressen, wie heute bekannt ist. In einer kleinen Studie untersucht die ETH daher, wie praktikabel es ist, Mäuse stattdessen mithilfe einer Röhre hochzuheben.

Dies ist nur ein Beispiel, wie Forschende versuchen, Belastung und Stress von Versuchstieren zu verringern. «Der Umgang mit Tieren in der Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt», sagt Annamari Alitalo, Leiterin Tierschutz an der ETH Zürich. Man könne sich Forschungsprojekte aus den 1980er-Jahren anschauen. Viele der damaligen Versuche würden heute gar nicht mehr bewilligt, sagt sie. Heute werden Versuche achtsamer geplant, die Bewilligungspraxis ist strenger geworden, und Labortierkunde ist ein eigener Wissenschaftsbereich, der sich in den vergangenen Jahren stark weiterentwickelt hat. Das Wissen zu Labortieren ist heute grösser und das kommt ihnen zugute.

Ein Beispiel ist die Schmerzausschaltung, die heute einen hohen Stellenwert geniesst, wie Alitalo betont. Gehört zu einem Tierversuch eine chirurgische Operation, wird die Anästhesie professionell geplant. Und bei Versuchen, die mit Schmerzen oder anderen Belastungen verbunden sind, ist von vornherein klar geregelt, wann ein Versuch abgebrochen werden muss. Alle Personen, die in der Schweiz Tierversuche durchführen, brauchen eine Ausbildung und besuchen regelmässige Weiterbildungen. Wie man bei Labortieren Schmerz erkennt, ist da zum Beispiel ein Thema.

Neue Methoden, um Tierversuche zu ersetzen

An der ETH und anderswo entwickeln Forschende unter dem Stichwort 3R (replace, reduce, refine) neue Ansätze, um Tierversuche durch andere Methoden zu ersetzen, sie mit weniger Tieren durchzuführen oder die Tiere möglichst wenig zu belasten. Wo immer es möglich und sinnvoll ist, beantworten Forschende ihre Fragen mit alternativen Methoden, beispielsweise nutzen sie Zellen oder Organoide – dreidimensionale Zellverbände in der Petrischale. In der Alterungsforschung kommen an der ETH wann immer möglich statt Mäuse Fadenwürmer zum Einsatz. Letztere haben ein sehr primitives Nervensystem, und die Arbeit mit ihnen gilt in der Schweiz nicht als Tierversuch.

Dennoch lassen sich Tierversuche nur beschränkt durch alternative Methoden ersetzen, wie neben Alitalo auch ETH-Professor Bohacek betont. Um komplexe Organe wie das Gehirn oder das Zusammenspiel verschiedener Organe zu untersuchen, bleiben Forschende noch in vielen Fragestellungen auf Tiere angewiesen. Viele Fragestellungen zu Stoffwechselstörungen, Infektionskrankheiten oder das Zusammenspiel von Darmflora und Körper lassen sich nur in einem lebenden Organismus erforschen.

«Oft höre ich das Argument, man könne neurologische Forschung auch mit Hirnmodellen am Computer durchführen», sagt Bohacek. «Davon sind wir aber meilenweit entfernt.» Die Komplexität des Gehirns übersteigt bei Weitem alles, was wir heute am Computer berechnen können. «Wenn eine wichtige Forschungsfrage nicht mit Ersatzmethoden beantwortet werden kann, muss man sie mithilfe von Tierversuchen angehen», sagt auch Detlef Günther, Vizepräsident für Forschung der ETH Zürich. Und das werde sich auch längerfristig nicht ändern.

Qualität und Aussagekraft der Versuche erhöhen

Bohacek und Alitalo sehen vor allem einen Weg, die Zahl an Tierversuchen zu reduzieren: die Qualität und die Aussagekraft der einzelnen Versuche zu erhöhen. Liefert ein einzelner Versuch mehr Daten und sind die Messungen präziser und ihr Streubereich enger, braucht es insgesamt weniger Versuche und Tiere. Bohacek entwickelt derzeit zum Beispiel neue rechnergestützte Methoden, mit denen klassische Verhaltenstests von Mäusen genauer ausgewertet werden können: Er analysiert den Aufenthalt von Mäusen in einem Gehege mithilfe von Bildanalyse und künstlicher Intelligenz. «Wir erhalten auf diese Weise präzisere Aussagen dazu, wie ängstlich ein Tier ist, als wenn wir dasselbe mit dem menschlichen Auge und von Hand auswerten», sagt der ETH-Professor.

Obschon heute alles getan wird, um die Anzahl der Tierversuche zu reduzieren und das Leid von Versuchstieren möglichst zu vermeiden, geht es nicht in allen Fällen ohne. «Wenn ich Stresserkrankungen im Tiermodell erforsche, gehört etwas dazu, das alles andere als schön ist: Ich muss die Tiere stressen», erklärt Bohacek. Weder er noch irgendein anderer Forscher, den er kenne, mache gerne Tierversuche, doch er sehe darin eine zwingende Notwendigkeit.

3,5 Prozent gehören zum höchsten Schweregrad

Ein Beispiel eines Stressfaktors, den Bohacek einsetzt: Mäuse müssen sechs Minuten lang im kalten Wasser schwimmen. Sie können das, mögen es aber überhaupt nicht, und schütten dabei dieselben Hormone und Neurobotenstoffe aus wie Menschen in stressigen Situationen.

In der Schweiz werden Tierversuche in vier Schweregrade eingeteilt. Von den gut 30'000 an der ETH in Tierversuchen eingesetzten Tiere pro Jahr sind 3,5 Prozent der höchsten Stufe zugeordnet. Dazu gehören auch die Schwimmstress-Versuche bei Mäusen.

Die Erforschung von Stress ist aber äusserst relevant, wie Bohacek betont. «Anhaltender Stress gehört zu den wichtigsten Auslösern von psychischen Erkrankungen beim Menschen. Es ist fundamental, dass wir die molekularen Mechanismen dahinter verstehen», sagt er. Wenn die biomedizinische Forschung Fortschritte machen möchte beim Verständnis und der Therapie von Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen, Alzheimer, Krebs oder Herzkreislauferkrankungen, ist sie auch weiterhin auf Tierversuche angewiesen.

Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-​​​Magazins «life».

Initiative zum Verbot von Tierversuchen

Am 13. Februar 2022 gelangt in der Schweiz eine Volksinitiative zum Verbot von Tier- und Menschenversuchen zur Abstimmung, welche den biomedizinischen Fortschritt verunmöglichen würde. Sie würde nicht nur die tierexperimentelle Forschung und klinische Studien an Menschen verbieten, sondern auch die Einfuhr von neuen Produkten, die mit ihrer Hilfe entwickelt worden sind. Neue Medikamente und Impfstoffe könnten nicht mehr in die Schweiz importiert werden.