«Eine solche Situation lässt nur Verlierer zurück»

Die europäische Forschungsgemeinschaft lancierte heute die Initiative «Stick to Science». Darin fordern Forschende, die Schweiz und das Vereinigte Königreich möglichst rasch zum Forschungsprogramm Horizon Europe zu assoziieren. Die ETH Zürich gehört zu den Initiatoren. Weshalb, erklärt ETH-Präsident Joël Mesot im Interview.
Der ETH-​Präsident Joël Mesot im Interview (Bild: ETH Zürich / Gian Marco Castelberg)

ETH-News: Warum lanciert die ETH Zürich eine solche Initiative?

Joël Mesot: Es braucht heute mehr denn je die Zusammenarbeit, um globale Probleme gemeinsam zu lösen. Die Wissenschaft will und muss ihren Beitrag leisten, um beispielsweise künftige Pandemien zu vermeiden oder die Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen. Die Schweiz und Grossbritannien sind wissenschaftliche Schwergewichte, denen der volle Zugang zu Horizon Europe aus politischen Gründen verwehrt bleibt. Wir wollen mit dieser Initiative darauf aufmerksam machen, dass dieser Zustand weder im Interesse der Schweiz noch von Europa ist. Und diese Sicht teilen Hochschulen, Forschungsinstitutionen und wissenschaftliche Netzwerke in ganz Europa!

Haben europäische Forschungsinstitutionen denn ein Interesse daran, dass die Schweiz und Grossbritannien assoziiert werden? Für europäische Hochschulen ist dies doch nun eine Chance, Talente aus der Schweiz und Grossbritannien abzuwerben und die Koordination wichtiger Forschungsprojekte zu übernehmen.

Das ist eine berechtigte Frage, denn Wissenschaft ist immer auch Wettbewerb. Es gibt sicher Institutionen, die über einen Ausschluss von Schweizer und britischen Top-Universitäten nicht unglücklich sind. So hat es sich der Schwedische Forschungsrat in der aktuellen Situation nicht verkneifen können, Gewinnerinnen und Gewinner von ERC-Grants an Schweizer Universitäten offen abwerben zu wollen! Doch gesamthaft betrachtet kann Europas Forschung nur gewinnen, wenn sie die starken und bewährten Partnerländer Schweiz und Grossbritannien wieder voll assoziiert. Das zeigt auch die lange Liste von Organisationen und namhaften Köpfen, die die Stick to Science-Initiative unterschrieben haben: Es kann nicht angehen, dass die Wissenschaft wegen politischer Uneinigkeiten auf der Strecke bleibt. Eine solche Situation lässt nur Verlierer zurück.

Warum ist eine Assoziierung für die Schweiz zum europäischen Forschungsprogramm so wichtig? Die Schweiz ist doch in der Forschung international ohnehin sehr gut vernetzt…

Die Schweiz ist vernetzt, ja. Die ETH ganz besonders und wir haben gute und wichtige Kontakte in die USA und nach Asien. Diese Kontakte können unsere Verbindungen zum europäischen Forschungsraum jedoch nicht ersetzen. Netzwerke entstehen nicht über Nacht, sie sind das Resultat von jahrelanger Beziehungspflege. Schlüsselthemen wie Energie, Quantencomputing, Cybersecurity oder Medizin sollten wir mit europäischen Partnern bearbeiten. Lösungen für intelligente und stabile Netze in einer CO2-freien Energiewirtschaft beispielsweise, werden wir nicht primär mit Asien erarbeiten, sondern mit Europa. Ausserdem ist die Schweiz auch Teil einer Wertegemeinschaft in Europa; dies manifestiert sich auch in der Art und Weise, wie zum Beispiel mit persönlichen Daten oder geistigem Eigentum umgegangen wird. Und natürlich macht es mir auch Sorgen, dass sich unsere Forschenden nun nicht mehr auf die begehrten ERC-Grants bewerben können.

Immerhin bezahlt das SBFI ja bis auf Weiteres die nun fehlenden Gelder.

Wir schätzen die finanzielle Unterstützung durch das SBFI in dieser schwierigen Situation sehr,  dürfen aber eines nicht vergessen: Ein ERC-Grant für Forschende ist viel mehr als das damit eingeworbene Geld, vor allem für Forschende am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere. Ein ERC-Grant öffnet Türen und Netzwerke und ist oft das Sprungbrett für eine Professur. Der Vergleich wurde schon oft gemacht, aber er stimmt noch immer: In der Champions League zu spielen hat einen anderen Stellenwert als in der nationalen Liga zu reüssieren. Zwar steht unseren Forschenden in verschiedenen Bereichen noch eine Teilnahme an Programmen von Horizon Europe offen. Aber mit dem Status eines nicht-assoziierten Drittstaats der Schweiz können sie keine Grossprojekte mehr koordinieren, eine Zusammenarbeit wird enorm erschwert und zu einem regelrechten Hindernislauf.

Ist es aus Sicht der EU nicht verständlich, dem Verhandlungsabbruch durch den Bundesrat Konsequenzen folgen zu lassen?

Wir sind uns natürlich bewusst, dass es für die Politik noch andere Interessensabwägungen gibt als die der Wissenschaft. Aber wir haben schon einmal eine sehr schwierige Situation erlebt mit dem vorübergehenden Ausschluss der Schweiz aus Horizon im Jahr 2014. Mit der heute lancierten europaweiten Initiative «Stick to Science» wollen wir der Politik sagen: Lasst die Wissenschaft ihre Arbeit machen, ermöglicht ihr die ungehinderte Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg – es ist im Interesse von uns allen, der Schweiz und Europa.