Die zeitgenössische Stadt neu erfinden mit Elena Cogato Lanza

Sommerserie: Forschung als Berufung. Wer die Zukunft vorhersagen will, lernt aus der Vergangenheit – dieses Sprichwort fasst die Karriere von Elena Cogato Lanza, Leitende Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der EPFL und Expertin für Geschichte und Theorie der Stadtplanung, treffend zusammen.
Elena Cogato Lanza ist Leitende Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der EPFL© Alain Herzog / EPFL 2020

Als unser Video-Interview beginnt, bewegt sich eine kleine gusseiserne Teekanne in der Ecke des Bildschirms in und aus dem Blickfeld. Elena Cogato Lanza reflektiert über ihr Studium in Italien, das sie zwischen ihrer Heimatstadt Vicenza und der Universität Venedig verbracht hat. Während sie am Tee nippt, sagt sie: «Ich war an allem interessiert. Lange Zeit konnte ich mich nicht zwischen Anthropologie, Kunstgeschichte und Architektur entscheiden. Ich wollte verstehen, wie die Art und Weise, in der wir den Raum besetzen, zu kulturellen Handlungen wird.»

Am Ende war es die Architektur, die sich durchgesetzt hat. Als Disziplin erlaubte sie ihr, sich mit allen anderen Bereichen zu beschäftigen, mit Ingenieurinnen an Forschungsprojekten zu arbeiten und in jüngster Zeit die Möglichkeiten der digitalen Technologie zu erforschen. Als akademische Redakteurin der Juni-2020-Ausgabe der Zeitschrift «Urban Planning» bat sie Frédéric Kaplan, den Direktor der «Venice Time Machine», sein Projekt zu diskutieren. Durch den Einsatz von Big Data und virtueller Realität – vielversprechende Werkzeuge für Architekten – wird die Zeitmaschine den Forschenden eine Reise in die Vergangenheit Venedigs ermöglichen.

Und in der Tat waren es Zeitreisen, die in Venedig zum Spezialgebiet von Lanza wurden. «Die Universität hatte eine renommierte Abteilung für Architekturgeschichte», sagt sie, «und ich fühlte mich sofort zu diesem Fachgebiet hingezogen. Schon sehr früh wusste ich, dass mein Schwerpunkt als Architektin eher in der Forschung als im Bauwesen liegen würde.» Lanza nutzt die Geschichte, um das Potenzial einer Stadt aufzudecken und damit ihre Zukunft vorherzusagen. Diese Expertise hat zu Einladungen in internationale wissenschaftliche Ausschüsse geführt. Von 2004 bis 2009 arbeitete sie für das französische Ministerium für Kultur und Kommunikation, insbesondere zur Zukunft des Grossraums Paris, und seit 2018 hat sie den Vorsitz des Lenkungsausschusses für den Grossraum Genf inne. Sie ist auch als wissenschaftliche Beraterin in Frankreich, Italien und Belgien tätig.

Ihr wirklicher Durchbruch kam jedoch erst, nachdem sie sich als Architektin qualifiziert hatte. Im Jahr 1990 erhielt sie ein Forschungsstipendium, das ihr ein Studium an der in Genf ansässigen Fondation Braillard Architectes ermöglichte. Sie liess sich in der Schweiz nieder und vertiefte sich in Masterpläne für den Genfer Stadtumbau aus den 1930er Jahren. Das Projekt, das nie das Reissbrett verliess, enthüllte eine ganz andere Vision von Calvins Stadt. Ihr Stipendium führte zu einer Diplomarbeit, die Lanza als externe Studentin an der EPFL abschloss.

Territorium als Palimpsest

Parallel zu ihrer Doktorarbeit begann Lanza mit der Veröffentlichung ihrer Forschungsarbeiten und übernahm eine wachsende Zahl von Projekten. «Zu dieser Zeit hatte ich das Glück, André Corboz, einen Architektur- und Städtebauhistoriker, Professor an der ETH Zürich, kennen zu lernen. Er war eine bedeutende Inspirationsquelle für meine Arbeit und ist es bis heute geblieben.» Corboz führte sie in das Konzept des Territoriums als Palimpsest ein. Darunter versteht man die Idee, dass eine Stadt das Produkt zahlreicher übereinanderliegender, miteinander verwobener historischer Schichten ist - urbane «Schriften», die ihrerseits das Ergebnis einer Reihe von Theorien und kollektiven Visionen sind. «So werden zum Beispiel Kanäle in städtischen Gebieten sehr oft zu Wegen, die wiederum zu Strassen werden, und manchmal werden Pläne zur Wiedereröffnung dieser Wasserwege erstellt», erklärt sie.

«Mir wurde bewusst, dass man wissenschaftliche Instrumente entwickeln kann, um das Veränderungspotenzial einer Stadt zu erfassen und die Verbindungen zwischen ihren verschiedenen Schichten zu verstehen. Dabei handelt es sich nicht um architektonische Werkzeuge an sich, doch sie basieren auf räumlichen und visuellen Analysefähigkeiten, die typischerweise bei Projekten in diesem Bereich angewandt werden.» Sie verfeinerte ihre Methodik und suchte, um ihre Beobachtungen auf objektive Fakten zu stützen, in ihren verschiedenen Forschungsprojekten ständig nach Verbindungen zwischen Kartographie und quantitativer Analyse. Nach und nach wurde das zentrale Thema klar, dem sie sich in ihrer Laufbahn widmen wollte: Wie kann man die heutige Stadt neu erfinden?

Eine Konstellation von Unklarheiten

Seit den 2000er Jahren – ihre Dissertation liegt hinter ihr – lehrt Lanza Geschichte und Theorie der Stadtplanung an der EPFL und gelegentlich an den Universitäten Lausanne und Neuenburg. «Ich sage meinen Studierenden immer, dass gute Theorien nicht notwendigerweise die allumfassendsten sind, sondern eher diejenigen, die eine Konstellation von Mehrdeutigkeiten enthalten und deren Mängel im Laufe der Zeit offensichtlich werden. Das verleiht ihnen die Fähigkeit, den Kurs zu ändern, und dient als Grundlage für ständige Inspiration. In der Stadtplanung müssen wir sehr aufmerksam auf den grösseren Kontext achten, der sich entfaltet, und nicht nur auf genau definierte Ziele.»

Neben der Lehre veröffentlicht Lanza weiterhin Monographien und trägt im Rahmen von Forschungsprojekten an der EPFL zu Sammelwerken bei. Auch ihrer Rolle als Verlegerin fühlt sie sich sehr verpflichtet: 2008 gründete sie die Reihe vuesDensemble bei MētisPresses. Ziel dieser Publikationsreihe ist es, neue kritische Perspektiven und zukunftsweisende Analysen in Architektur und Städtebau zu liefern und den historischen Hintergrund der zeitgenössischen Städte besser zu verstehen.

Konzeptualisierung eines autofreien Planeten

Ab 2013 leitete Lanza im Rahmen des Sinergia-Programms des Schweizerischen Nationalfonds eines ihrer bekanntesten Forschungsprojekte, «Post-Car World». Das Projekt erarbeitete Vorschläge, die auf der Hypothese basierten, dass in naher Zukunft die privaten Automobile vollständig aus dem Verkehr gezogen werden. Die Gruppe begann mit der Erhebung verkehrsbezogener Statistiken in der Schweiz und interessierte sich insbesondere für den Rückgang der Zahl der Führerscheine und die Zunahme der Verkäufe von Fahrkarten für den öffentlichen Verkehr. «Wir müssen die Bedeutung dieser schwachen Signale verstehen», sagt sie. Ihre Analyse konzentrierte sich auf den Grossraum Genf-Lausanne.

«Wir haben die Verkehrsverbindungen zwischen diesen Städten von 1900 bis heute kartiert und festgestellt, dass dieses Netz mehr oder weniger unverändert geblieben ist», sagt sie. «Wir kamen zum Schluss, dass die Niedrigenergie- und sanften Mobilitätslösungen von morgen diesem jahrhundertealten Netz folgen werden.» Das Projekt sah auch die Schaffung einer neuen Strassenbahn entlang der heutigen Autobahn vor, die zu einer neuen zentralen Verkehrsader auf halber Strecke zwischen den Städten in den Juraausläufern und den Städten am See werden sollte. Ein Band, der die interdisziplinäre Forschung des Teams zusammenfasst, wird im Herbst erscheinen.

Jenseits der Kluft zwischen Stadt und Land

Lanza arbeitet derzeit an der Frage der städtischen Ernährungssicherheit: «Wir müssen Synergien entwickeln, die sich mit den Trennungen und Schwierigkeiten befassen, die zwischen städtischen und landwirtschaftlichen Gebieten sowie zwischen subventionierten Formen der Landwirtschaft und solchen, die an den Rand gedrängt oder sogar ignoriert werden, bestehen.» Ähnlich wie die schwachen Signale, die auf eine Bereitschaft zur Umstellung auf andere Formen der Mobilität hinweisen, sendet auch die Gesellschaft eine Reihe schwacher Signale bezüglich der Ernährungssicherheit aus. Dazu gehören u.a. der wachsende Wunsch, die Abhängigkeit von der Landwirtschaft, die hohe Kohlenstoffemissionen verursacht, zu beseitigen, die Vorstellung, dass Grünflächen in den Städten allzu knapp sind, und die Suche nach einer Mischung aus Wohnraum, öffentlichen Räumen und produktiven Aktivitäten, die eine bessere Lebensqualität fördern.

Wenn Lanza über die Anbauschlacht* (die Strategie der Schweiz zur Nahrungsmittelselbstversorgung während des Zweiten Weltkriegs) spricht und sie als visionär und inspirierend im Hinblick auf die heutigen Herausforderungen beschreibt, macht sie keinen Hehl daraus, dass Innovationen im Gleichgewicht zwischen Stadt, Natur und Landwirtschaft noch in weiter Ferne liegen. Aber die ersten Anzeichen sind da: «Als ich kürzlich am Parc des Bastions in Genf vorbeikam, war ich überrascht, dass ein neuer städtischer Weinberg in der Nähe der letzten Überreste der alten Befestigungsanlagen der Stadt gepflanzt wurde», sagt sie. «Dies ist ein perfektes Beispiel für ein städtisches Palimpsest! Selbst im kleinsten Massstab kann sich die städtische Umwelt immer wieder neu erfinden und facettenreicher werden, ohne ihren historischen Charakter zu verlieren.»

Der neu bepflanzte Weinberg in der Nähe des Parc des Bastions in Genf. © Alain Herzog / EPFL 2020

*Anbauschlacht (Historisches Lexikon der Schweiz)

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Biografie

1964: geboren in Vicenza

1990: Abschluss in Architektur, Universität Venedig

1999: Promotion an der EPFL: «L'urbanisme en devenir: réseaux et matériaux de l'aménagement urbain à Genève dans les années 1930»

2000–heute: Dozentin für Geschichte und Theorie der Stadtplanung an der EPFL und den Universitäten Lausanne und Neuenburg sowie im Rahmen des Master of Advanced Studies in Urban Planning (EPFL-UNIGE)

2004–2009: Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses des französischen Ministeriums für Kultur und Kommunikation, u.a. des internationalen Forschungs- und Entwicklungsprogramms «Grand Pari(s) de l'Agglomération Parisienne».

2008: Schaffung der Reihe «vuesDensemble» bei MētisPresses

2013–2017: Leitung des Teilprojekts «Urbanität: Konfigurieren einer Welt nach dem Auto» im Rahmen des Programms Sinergia des Schweizerischen Nationalfonds

2015–heute: Präsidentin des Stiftungsrates der Fondation Braillard Architectes

2018–heute: Vorsitz des Lenkungsausschusses für die internationale Konsultation des Grossraums Genf

2020: Direktorin des Doktoratsprogramms Architektur und Wissenschaften der Stadt (EDAR) an der EPFL

Link

Elena Cogato Lanza

Literaturhinweise

Cavalieri Chiara, Cogato Lanza Elena, «Territories in Time: Mapping Palimpsest Horizons», Urban planning, Volume 5, Issue 2, 2020.

Cogato Lanza, E., Villaret, M. «Dall’autosufficienza alla sicurezza alimentare: una transizione per l’urbanistica svizzera», in C. Bianchetti (ed), Territorio e Produzione, Macerata, Quodlibet, 2019, pp. 22-29.

Cogato Lanza, E., «Brussels ecosystems in space. Solving the paradox between non-spatial eco-system and design distance criterion», in Declève, B., et alii, designing Brussels Ecosystems, Ruddervoorde, UCL-ULB Metrolab series, 2020, pp. 210-217.

Bianchetti, C.; Cogato Lanza E.; Sampieri, A.; Voghera A. (eds), Territories in crisis, Berlin, Jovis, 2015.

Cogato Lanza, E.; Girot, Ch., Experimenting Proximity. The Urban Landscape Observatory, Lausanne, PPUR, 2014.

In Vorbereitung:

Cogato Lanza, E. ; Bahrami F. ; Berger, S. ; Pattaroni, L., Post-Car Leman City. Futurs de la ville-territoire, Genève, MetisPresses (2020).

Vollständige Bibliographie