Der Bedarf an Radionukliden für die Krebstherapie ist gross

Radionuklide eröffnen neue Behandlungswege bei Krebs, die sehr effizient sind. Christian Rüegg, Leiter des Forschungsbereichs Neutronen und Myonen am Paul Scherrer Institut PSI, erklärt, welche Rolle die Schweizer Spallations-Neutronenquelle SINQ des PSI bei der Entwicklung eines entsprechenden Medikaments spielt.

Herr Rüegg, die Spallations-Neutronenquelle SINQ ist doch eher bekannt dafür, dass man mit den Neutronen, die sie produziert, Dinge zerstörungsfrei untersuchen kann. Dass sie auch zur Herstellung von Krebsmedikamenten genutzt wird, klingt überraschend.

Das stimmt. Bekannter ist die SINQ für ihre Anwendungen in Festkörperphysik, Magnetismus, Chemie oder Biologie. Jährlich haben wir hier 1000 Gastforscher zu Besuch und es werden 400 Experimente durchgeführt. Um die Spallations-Neutronenquelle herum sind insgesamt 15 Instrumente angeordnet. Damit kann man hervorragend Grundlagenphysik, aber auch sehr angewandte Forschung betreiben, zum Beispiel Kunstgegenstände durchleuchten. Die Radionuklide hingegen werden direkt im Inneren der Anlage erzeugt. Das stört die übrigen Experimente übrigens nicht. Das heisst, die Produktion kann rund um die Uhr laufen, wenn die Anlage in Betrieb ist.

Gibt es weltweit viele Anlagen, in denen Radionuklide für die Medizin hergestellt werden?

Die meisten Forschungs-Neutronenquellen wurden für Experimente in der Grundlagenforschung gebaut. Bei uns hat man die SINQ hingegen von Anfang an so konstruiert, dass man damit auch Radionuklide produzieren kann.

Radionuklide lassen sich aber auch in Reaktoren herstellen. In Kanada produzierte ein alter Forschungsreaktor in Chalk River einen grossen Anteil der in Nordamerika benötigten Menge. Man liess ihn länger in Betrieb als vorgesehen, weil die Produktion für die medizinische Behandlung so wichtig war. 2018 wurde er aber nach 61 Betriebsjahren abgeschaltet.

Dabei ist der Bedarf nach wie vor sehr gross, denn Radionuklide öffnen neue Behandlungswege für Krebs, die sehr effizient sind. Deshalb gibt es gute Gründe, auf deren Produktion zu setzen. In Australien hat man einen Forschungsreaktor so gebaut, dass man damit zur einen Hälfte Streuexperimente für die Grundlagenforschung durchführen kann, zur anderen Hälfte werden damit Radionuklide für medizinische Anwendungen produziert. Auch in Argentinien entsteht eine Anlage mit diesem Ziel.

Was ist der Vorteil der SINQ?

Wir haben nicht nur die Neutronenquelle, sondern können auch alle weiteren Verfahren zur Entwicklung eines Medikaments hier an einem Ort durchführen. Die Produktion der Radionuklide ist ja nur der erste Schritt. Doch dann muss man sie extrahieren, dazu braucht es die Radiochemie. Dann muss das Radionuklid an ein Molekül gebunden werden, das dafür sorgt, dass die radioaktive Fracht an den richtigen Ort – zu den Tumorzellen – gelangt. Dies ist eine besonders schwierige Aufgabe. Für alle Schritte haben wir am PSI hervorragende Fachleute. Die SINQ, als Ausgangspunkt für alle weiteren Schritte, gibt uns die einzigartige Möglichkeit, die gesamte Forschung vor Ort zu betreiben.

Hat die Neutronenquelle am PSI auch Nachteile?

Wir können damit zwar neue Radionuklide produzieren, neuartige Methoden entwickeln und sie auf Machbarkeit prüfen. Wir können aber nur Testmengen an Radionukliden herstellen. Eine grössere und regelmässige Produktion für den Praxis-Einsatz am Patienten ist damit kaum möglich. Diese braucht es aber nicht, denn dazu gibt es Forschungsreaktoren, die extra dafür gebaut sind, zum Beispiel in Südafrika, aber auch am europäischen Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble. Dort gibt es die Möglichkeit, Proben mitten in den Forschungsreaktor einzuführen, wo die höchste Neutronendichte herrscht. Das macht es dann möglich, die Mengen herzustellen, die für grosse klinische Studien oder für Therapien benötigt werden.

Gibt es eine Zusammenarbeit mit dem ILL in Grenoble?

Die Schweiz ist als wissenschaftliches Mitglied am Betrieb des ILL beteiligt. Wir bekommen bereits Proben, die in Grenoble hergestellt wurden. Nun wollen wir diese Zusammenarbeit intensivieren. Wir möchten zusammen mit dem ILL die Produktion optimieren und ein automatisiertes Transportsystem für das zu bestrahlende Material aufbauen, wie wir das an der SINQ entwickelt haben. Da können unsere Kollegen in Grenoble von unseren Erfahrungen profitieren. Für die Schweiz ist das ebenfalls vorteilhaft, denn das soll gewährleisten, noch effizienter genug und regelmässig Terbium-161 herzustellen. Damit sollen dann, unter anderem auch in der Schweiz, umfangreichere Studien durchgeführt werden, als das bisher mit den Mengen möglich ist, die wir liefern können.

Wie sieht die Zukunft der SINQ aus?

Im Moment rüsten wir die Spallationsquelle mit neuen Neutronenleitern auf, deshalb steht die Anlage seit Anfang des Jahres still. Die SINQ ist ja schon mehr als 20 Jahre alt. Als sie errichtet wurde, hat man die damals besten, verfügbaren, optischen Elemente verwendet. Doch inzwischen hat man diese weiterentwickelt. Deshalb modernisieren wir die Neutronenoptik, welche die Neutronen von der Quelle zu den Instrumenten führt, und mehrere Instrumente. Für die Produktion der Radionuklide, die direkt in der Quelle geschieht, wird sich aber nichts ändern. Im Mai 2020 wollen wir die SINQ wieder in Betrieb nehmen und hoffen, dass sie danach weitere 20 Jahre erfolgreich für Experimente in der Grundlagen- und Materialforschung zur Verfügung stehen und Radionuklide für die Medizinforschung produzieren wird.

Text: Barbara Vonarburg

Kontakt

Prof. Christian Rüegg
Forschung mit Neutronen und Myonen
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 47 78, E-Mail: christian.rueegg@psi.ch [Deutsch, Englisch]