Im arktischen Eis das Klima untersuchen

Der deutsche Eisbrecher Polarstern treibt seit Herbst in den zugefrorenen arktischen Gewässern. Julia Schmale, Expertin für Atmosphärenwissenschaften an der EPFL, kam vor zwei Monaten dazu, um die Entstehung von Wolken und ihre Rolle bei der regionalen und globalen Erwärmung zu untersuchen.
2020 EPFL/J.Schmale

Temperaturen von -40 Grad. Eine lange Winternacht weicht dem ewigen Tageslicht. Und rundherum Eis, nichts als Eis... Unter diesen ungewöhnlichen Bedingungen arbeitet derzeit ein internationales Forscherteam an Bord des deutschen Schiffes Polarstern. Seit September und für ein Jahr treibt dieser wissenschaftliche Eisbrecher langsam in den gefrorenen Gewässern von Nordsibirien bis zum Svalbard-Archipel am Rande Grönlands. Julia Schmale, Atmosphärenforscherin an der EPFL, kam vor zwei Monaten dazu.

Das Schiff wurde im Rahmen eines Grossprojekts wissentlich in diese Situation gebracht. Unter dem Titel MOSAIC – für «Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate» (Multidisziplinäres driftendes Observatorium zur Erforschung des arktischen Klimas) – zielt es darauf ab, das Klima der arktischen Zone und seine Rolle bei der Entwicklung des Erdklimas besser zu verstehen. An Bord hat Julia Schmale die Leitung des Teams übernommen, das für die atmosphärischen Analysen zuständig ist. Ihre Rückkehr in die Schweiz war für Mitte April geplant. Die Auswirkungen der Coronakrise schoben sie auf Anfang Juni hinaus.

Seit kurzem leitet die junge Wissenschaftlerin das neue Forschungslabor für Extreme Umwelt an der EPFL in Sion. Julia Schmale, eine Veteranin der Polarexpeditionen, nahm an der ACE-Expedition teil, die 2017 die Antarktis bereiste. An Bord der Polarstern untersucht sie die in der arktischen Luft vorhandenen Partikel und ihre Rolle bei der Wolkenbildung. Aus dem Meer aus Eis beschreibt sie diese faszinierende Umgebung, ein fast lebendiges Eis, die Ausflüge auf dem Packeis, den Fortschritt und den Zweck ihrer Arbeit. Das vollständige Interview wird auf der Website von EPFL Out There verfügbar sein.

Wie ist es, auf dem Eis zu leben und zu arbeiten?

Unvorhersehbar! Die Eisdecke verändert sich rasch. Während der Nacht können neue Risse, Kanäle oder Grate entstehen, die uns daran hindern, unsere Suchorte auf dem Packeis zu erreichen. Je nach Ausmass der Transformation müssen wir nach anderen Zugangswegen suchen, die geplante Aktivitäten verzögern oder sogar unmöglich machen können. Manchmal treten diese Veränderungen auf, wenn wir im Freien sind. Wir müssen dann unseren Rückweg im Auge behalten, oder wir werden von der Bootsbrücke zurückgerufen, die die Aktivitäten im Freien koordiniert und überwacht. Bevor wir hinausgehen, müssen wir immer genau notieren, wer wo mit welcher Art von Ausrüstung hingeht und vor allem, wer die Eisbären überwacht. Die benannte Person trägt eine Leuchtpistole, um das Tier notfalls fernzuhalten, und ein Gewehr, falls es sich zu schnell nähert. Am 23. April sahen wir zum ersten Mal seit unserer Ankunft einen Bären.

Ansonsten ist die Landschaft einfach wunderschön. Als wir ankamen, war es noch stockdunkel und die Morgendämmerung setzte ein. Die verschiedenen Forschungsstandorte auf dem Packeis schienen sehr weit entfernt zu sein, waren aber zu Fuss auf einem ziemlich glatten Eis leicht zu erreichen. Jetzt ist es 24 Stunden am Tag hell. Alles scheint näher zu liegen, ist aber wegen der Unebenheiten des Geländes viel schwieriger zu erreichen. Auch die Kanäle sind sehr schön. Bei Temperaturen von -20 Grad fangen sie schnell an zuzufrieren – etwa 6 cm an einem einzigen Tag – und erzeugen faszinierende «Eisblumen», die beobachtet und für biochemische Analysen gesammelt werden können. Die Kanäle können sich auch schliessen und in nur zwei Stunden bis zu sechs Meter hohe Bergrücken bilden. Manchmal können wir die Bewegung des Eises hören und sogar mit bloßem Auge sehen, wenn der Prozess schnell verläuft.

Wie ist das Wetter in diesen Breitengraden?

Das Wetter hat uns alle seine Facetten gezeigt. Wir hatten eine Periode mit sehr niedrigen Temperaturen, in der Größenordnung von -40 Grad, was die Arbeit im Freien zu einer echten Herausforderung machte und einige der Einrichtungen an Bord ausser Betrieb setzte. Der Monat März war besonders stürmisch, mit starken Winden und manchmal völlig weissen Tagen. Jetzt ist das Wetter stabiler. Das Wetter ist schön, der Himmel ist blau und der Wind ist leicht, was mich ein wenig an den Winter in den Alpen erinnert. Jetzt unter 84°N befinden wir uns in wärmeren Luftmassen, die vom Atlantik aufsteigen. Die Temperaturen sind deutlich höher, etwa 0° Celsius, begleitet von Regen und Oberflächenschmelze.

Welche Art von Daten sammeln Sie unter diesen besonderen Bedingungen, und warum?

Ich untersuche, wie natürliche und menschliche Emissionen tiefliegende arktische Wolken verändern. Diese Wolken spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Energie- und Massenbilanz der Arktis, weil sie Strahlung reflektieren und absorbieren und weil sie durch Niederschläge zur Schneebedeckung beitragen. Typischerweise werden diese Wolken aus Kondensationskernen oder Eispartikeln gebildet. Diese Aerosole können aus natürlichen Quellen stammen – wie Gischt, Phytoplanktonemissionen oder Flugschnee – oder aus menschlichen Quellen – wie der Verbrennung fossiler Brennstoffe, industriellen Emissionen oder der Landwirtschaft.

Dank unserer hochentwickelten Bordgeräte können wir herausfinden, zu welcher dieser Kategorien sie gehören, indem wir ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften analysieren, insbesondere ihre Anzahl, Grösse, Verteilung, Hygroskopizität, Zusammensetzung und Fluoreszenz. Unser Ziel ist es, zu verstehen, inwieweit natürliche oder vom Menschen verursachte Prozesse zur Wolkenbildung und zum Energiehaushalt in der Arktis beitragen und wie sich dies in Zukunft ändern könnte, wenn sich die so genannte «Neue Arktis» entwickelt und sich die menschlichen Emissionen verändern. Letztendlich können diese Informationen in arktischen Klimawandel-Szenarien verwendet werden.

Was hat Sie die arktische Luft schon gelehrt?

Die Daten liefern ein Bild der Zusammensetzung der Atmosphäre nahezu in Echtzeit. Insbesondere können wir beobachten, dass die Luftmassen, wenn sie aus dem hohen Norden kommen, eine uralte, d.h. mehrere Tage oder Wochen alte Aerosolpopulation, die hauptsächlich aus Schwefelsäure besteht, abfliessen lassen. Dieses Winterphänomen ist allgemein bekannt. Der sogenannte arktische Dunst besteht aus einer Anhäufung von Schwefeldioxidemissionen aus menschlichen Aktivitäten in den mittleren und hohen Breiten. Sie begann im November, als die Konzentrationen etwa 50 Partikel pro cm3 betrugen. Jetzt liegen sie bei 200 pro cm3.

Wir stellen auch fest, dass bei Stürmen salziger Schnee in die Atmosphäre geschleudert wird, wo er Schwebeteilchen bildet. Ihre Anzahl hängt von mehreren Faktoren ab, wie z.B. ihrer Mikrostruktur, Windkompression oder Oberflächenrauheit. Diese Aerosole machen einen bedeutenden Teil der gesamten Partikelpopulation aus und spielen daher eine wichtige Rolle bei der Wolkenbildung.

Wenn schliesslich die Luft aus dem Süden eintrifft, sehen wir, wie sich alle Parameter ändern. Die Teilchen haben bereits Wolken durchquert. Sie sind dann in Bezug auf Herkunft, Grösse und chemische Zusammensetzung vielfältiger. Mitte April ist vor allem die Zeit der Phytoplanktonblüte im Atlantischen Ozean. Bei diesem Phänomen entsteht Dimethylsulfid, das dann in Methansulfonsäure umgewandelt wird, die wir nun in unseren Analysen nachweisen können. Wir finden auch Halogene – Jodsäure und Brom –, die einen eher lokalen Ursprung haben und mit der Schneechemie und der UV-Strahlung in Verbindung stehen. Und natürlich können wir auch Partikel von Booten, Schneemobilen und Hubschraubern sehen, die eine sehr deutliche Signatur haben.

Können Sie die Auswirkungen des Klimawandels direkt sehen?

Das ist schwer zu sagen. Wie viele der Teammitglieder bin ich das erste Mal in dieser Jahreszeit so hoch im Norden. Generell haben wir mit kompakterem Eis gerechnet und nicht damit, dass es so früh im Jahr mobil ist, aber das an sich ist nicht unbedingt ein Zeichen des Klimawandels. Auffallend ist jedoch, dass es bei der Ankunft der Atlantikluft Mitte April eher Regen als Schnee gab.

Beeinflusst die COVID-19-Krise das Leben selbst auf einem Schiff in der Arktis?

Ja, absolut, auf zwei Arten. Erst einmal erhalten wir Nachrichten von unseren Familien, Freunden und Kollegen, die uns erzählen, wie sich die Welt verändert hat und was dies in ihrem täglichen Leben bedeutet. Diese Pandemie gibt Anlass zur Sorge und ist ein immer wiederkehrendes Thema in unseren Gesprächen. Zweitens haben die weltweit geltenden Reisebeschränkungen die Nachfolgeplanung der wissenschaftlichen Teams gestört. Es hat uns mehrere Wochen gekostet, alternative Lösungen zu finden. Trotz all dieser Verzögerungen und der Ungewissheit darüber, was uns auf unserer Rückreise erwartet, ist die Moral an Bord gut. Wir sind eine eng verbundene Gruppe, die offen kommuniziert und sich umeinander kümmert. So fällt mir auch meine Arbeit als eine von fünf Teamleiterinnen viel leichter.

Sie sind lange Bootsfahrten gewohnt. Wie erleben Sie die Einschränkung?

Ich würde es nicht gerade Einschränkung nennen. Wir haben mehr Freiheit, als wir in der Schweiz hätten. Wir können arbeiten, ausgehen, uns treffen, Sport treiben, Mahlzeiten teilen. Unser Aktionsradius rund um das Schiff und unsere Aktivitäten sind zwar begrenzt, das stimmt, aber das wird nicht als Einschränkung empfunden, wenn man sich in einer so faszinierenden Umgebung befindet, Freundschaften schliesst und neue Arbeitsbeziehungen knüpft. Insgesamt ist es eine äusserst lohnende Erfahrung.