Digitaler Zwilling Digipredict sagt Entwicklung von Covid-19 vorher

Die EPFL startet ein interdisziplinäres Projekt zur Entwicklung einer auf künstlicher Intelligenz basierenden Technologie, die in der Lage ist, schwerwiegende kardiovaskuläre Funktionsstörungen aufgrund von Coronaviren und längerfristig auch Entzündungskrankheiten vorherzusagen.
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Covid-19 geht mit einer Reihe von Symptomen einher – von Halsschmerzen und Geschmacksverlust bis hin zu ernsteren Symptomen wie Lungenversagen. Aber wie können Ärzte vorhersagen, wie schwerwiegend die Krankheit sein wird, wenn sie sich zum ersten Mal manifestiert? «Das Zusammenspiel zwischen viraler Infektion, der Reaktion des Wirts und der Entwicklung von kardiovaskulären Entzündungen und Verletzungen ist immer noch weitgehend unbekannt. Es ist schwer zu sagen, ob die Symptome einer Patientin mild bleiben oder sich schnell verschlechtern und ein multiples Organversagen auslösen werden», sagt Adrian Ionescu, Professor am EPFL Nanoelectronic Devices Laboratory, das zur Fakultät für Ingenieurwissenschaft und Technologie gehört. Wenn Ärztinnen eine wissenschaftliche Methode anwenden könnten, um die Wahrscheinlichkeit einer Verschlechterung des Zustands eines Patienten besser zu verstehen und vorherzusagen, könnten sie Patienten in Krankenhäusern effektiver untersuchen und eine personalisierte Pflege anbieten.

Zu diesem Zweck hat die EPFL ein europaweites Forschungsprogramm namens Digipredict ins Leben gerufen. Ziel ist es, einen digitalen Zwilling zu entwickeln, der schwerwiegende Komplikationen bei Covid-19-Patienten und -Patientinnen erkennen kann. Dabei kommen bahnbrechende Technologien aus den Bereichen künstliche Intelligenz, Smart Patches und Organs-on-Chips zum Einsatz. Die Initiative bringt rund ein Dutzend Partnerorganisationen (Universitäten, Krankenhäuser und Start-ups) zusammen, darunter vier Labore der EPFL: Das von Ionescu zusammen mit dem Labor für eingebettete Systeme unter der Leitung von David Atienza, das Labor für Bewegungsanalyse und -messung unter der Leitung von Kamiar Aminian und das Labor für maschinelles Lernen und Optimierung unter der Leitung von Martin Jaggi. Über den Beitrag zum Kampf gegen Covid-19 hinaus hoffen die Forschenden, dass ihre Technologie die Erkennung, Überwachung und personalisierte Behandlung von Entzündungskrankheiten im Allgemeinen revolutioniert.

Vorhersage des Krankheitsverlaufs, Minute für Minute

Der digitale Zwilling Digipredict wird speziell für Anwendungen im Gesundheitswesen entwickelt. Er besteht aus einem intelligenten Pflaster mit integrierter Technologie zur Erfassung einer Reihe von medizinischen Daten wie Blutsauerstoffgehalt, Atemfrequenz und Körpertemperatur. Die Pflaster werden auch Nanosensoren enthalten, die mit einem Programm für künstliche Intelligenz verbunden sind, um kontinuierlich bestimmte Biomarker zu verfolgen, die darauf hinweisen, dass sich ein Zytokinsturm zusammenbrauen könnte. «Unser digitaler Zwilling nutzt die Organ-on-Chip-Technologie, um die richtige Biomarker-Kombination so auszuwählen, dass sie ein genaues Bild davon gibt, wie die Krankheit bei einer Patientin fortschreitet und wie gut die gewählten Behandlungen wirken», sagt Albert van den Berg, Professor an der Universität Twente und ebenfalls Mitglied des Digipredict-Teams. Ionescu fügt hinzu: «Mit unseren Datenerfassungsgeräten und KI-Algorithmen können wir den Ärztinnen und Ärzten objektive, quantitative Informationen liefern, um klinische Entscheidungen mit so wenig Fehlern wie möglich zu treffen.» Der digitale Zwilling wird so konzipiert sein, dass er Momentaufnahmen des Zustands von Patienten im Minutentakt verfolgt und den Ärztinnen bei der Auswahl personalisierter Behandlungsprotokolle hilft.

Ein «Zytokinsturm»

«Wir wissen, dass eine übermässige Reaktion des Immunsystems zu schweren kardiovaskulären Funktionsstörungen führen kann», sagt Wolf Hautz, Professor am Inselspital in Bern und Mitglied des Digipredict-Teams: «Wenn der Körper eine virale Infektion erkennt, beginnt er, grosse Mengen an Zytokinen zu produzieren, das sind Proteine, die die Immunantwort signalisieren. Aber bei einigen Covid-19-Patientinnen beobachten wir einen 'Zytokinsturm', der ihr Herz-Kreislauf-System ernsthaft schädigen kann. Wenn wir in der Lage wären, die ersten Anzeichen dieser Stürme zu erkennen und sie in Echtzeit zu verfolgen, wäre das ein grosser Schritt nach vorn in der Behandlung von Hochrisikopatienten.»

Ein Prototyp innerhalb von zwei Jahren

«Dieses multi- und interdisziplinäre Projekt wird wissenschaftliche Exzellenz mit technischem Know-how verbinden und die Expertise von Ärztinnen, Biologen, Elektroingenieurinnen, Informatikerinnen, Signalverarbeitungsingenieuren und Sozialwissenschaftlern aus ganz Europa nutzen», sagt Ionescu. Neben der EPFL sind die Universität Twente, die ETH Zürich, das IMEC in Belgien, die Stichting Imec in den Niederlanden, das Universitätsklinikum Charité in Berlin, die Universität Bern (über das Inselspital) und drei Start-ups (Ascilion, EPOS-IASIS und SCIPROM) die Partnerorganisationen. Diese Organisationen haben vereinbart, ihr Wissen zu bündeln, um den ersten digitalen Zwilling für Covid-19-Patienten zu entwickeln. Dieser wird an den beiden beteiligten Universitätskliniken getestet.

«Dieses Projekt kombiniert die neuesten Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und der biomedizinischen Forschung», sagt Alexander Meyer, Chief Medical Information Officer am Deutschen Herzzentrum Berlin und Professor für Klinische KI und Data Science an der Charité. «Digipredict wird die Art und Weise verändern, wie Ärztinnen die Verläufe der einzelnen Covid-19-Patienten sehen und bewerten. Und wir hoffen, dass es auch die Prävention, Diagnose, Überwachung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbessern wird.» Digipredict wird mit 6 Millionen Euro über vier Jahre gefördert und bringt rund 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, um das erste Gerät seiner Art zu entwickeln. Ein Prototyp soll in etwa zwei Jahren fertig sein, klinische Studien werden folgen.

Weitere Informationen

Digitale Zwillinge: die Zukunft der Technik

Digitale Zwillinge sind digitale Repliken eines Objekts, Prozesses oder Systems. Sie werden bei der Konstruktion eingesetzt und dienen dazu, besser zu verstehen, wie sich das System über seinen Lebenszyklus hinweg verhalten wird. Digitale Zwillinge können das Gesundheitswesen im 21. Jahrhundert revolutionieren und den Weg zu personalisierteren, präventiven und partizipativen Behandlungsoptionen ebnen, die einen Wechsel von reaktiver zu proaktiver Gesundheitsversorgung unterstützen.

Erstes international unterstütztes Forschungsprojekt des Center for Intelligent Systems der EPFL

Das Center for Intelligent Systems (CIS) ist für die Förderung von Digipredict und die Verbreitung der Ergebnisse verantwortlich. «Dies ist das erste internationale Forschungsprojekt, das unser Center unterstützt», sagt Jan Kerschgens, Executive Director des CIS. «Und wir sind stolz darauf, an Digipredict teilzunehmen – eine Initiative, die übergreifende Forschungslinien in allen Aspekten intelligenter Systeme verbindet und die die Zusammenarbeit von Forschungspartnerinnen und -partnern innerhalb und ausserhalb der EPFL aufwertet.»