Algorithmen erleichtern Wiederverwendung in der Bauindustrie
Die Bauindustrie gehört zu den umweltverschmutzenden Sektoren der Welt: In den entwickelten Ländern ist sie für etwa 40 % der CO2-Emissionen verantwortlich. Sie verbraucht bis zur Hälfte aller Ressourcen und erzeugt etwa ein Drittel aller Abfälle. Um die internationalen Verträge und die Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung zu erfüllen, ist die Branche daher gezwungen, kühne Schritte zur Verringerung ihres ökologischen Fussabdrucks zu unternehmen. «Wir müssen diese Auswirkungen so schnell wie möglich reduzieren», sagt Jan Brütting, der gerade am Structural Xploration Lab (SXL) der EPFL unter der Leitung von Corentin Fivet vom Smart Living Lab in Fribourg promoviert hat. «Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die systematische Umsetzung der Prinzipien der Kreislaufwirtschaft.»
Anstatt beim Entwurf eines Gebäudes neue Komponenten zu verwenden oder gar bestehende Metallteile durch Einschmelzen und Giessen in neue Formen zu recyceln, ermutigt Brütting Unternehmen, Statikerinnen und Architekten, sich bei ihren Entwürfen auf bereits verwendete Komponenten zu stützen, ohne diese wieder aufzubereiten. Dies ist sinnvoll, da die Zuverlässigkeit und die technischen Eigenschaften dieser Bauteile bereits nachgewiesen sind. «Das bedeutet, dass wir alles, was wir bisher gelernt haben, ändern müssen», stellt er fest. Und doch fehlen der Bauindustrie die dafür notwendigen Werkzeuge. In den vergangenen vier Jahren hat Brütting eine Softwareanwendung entwickelt, die es den Nutzenden ermöglicht, Strukturen zu entwerfen und gleichzeitig Lebenszyklusanalysen durchzuführen. Sie ist auf die Wiederverwendung von Stahlträgern, Stützen und Stäben ausgerichtet, aber auch andere Materialien wie Holz und Beton könnten einbezogen werden.
Eine Reihe von Funktionen
Und so funktioniert es: Die Ingenieurin oder Architektin gibt die allgemeinen Merkmale der zu bauenden oder modifizierenden Struktur in das Programm ein, zusammen mit einer Beschreibung des Bestands an wiederverwendbaren, gebrauchten Komponenten. Die Software führt dann eine erste Optimierung der Form der Struktur durch, um so wenig Material wie möglich zu verbrauchen. Als nächstes – und dies ist eine der Innovationen des Programms – bietet sie den Konstrukteurinnen und Konstrukteuren alternative Formen, die verschiedene Nachhaltigkeitsziele erfüllen. Beispielsweise ändert sie das Layout der Struktur und wählt und positioniert Elemente aus vorhandenen Beständen optimal aus, um den CO2-Fußabdruck der Struktur weiter zu reduzieren, sie begrenzt die Anzahl neuer Schnitte und hält die Anzahl der Komponenten auf einem Minimum.
Die Software kann auch die optimale Kombination aus neuen und recycelten Komponenten ermitteln, die den CO2-Fußabdruck einer Struktur minimiert. Eine Konstrukteurin oder ein Konstrukteur kann so die für das Projekt am besten geeignete Lösung auswählen und anpassen. Brütting hat seine App in realen Situationen getestet, basierend auf Materialien, die aus Schweizer Gebäuden und Infrastrukturen, die abgerissen wurden, wiedergewonnen wurden.
Schliesslich liefert seine Arbeit Richtwerte, anhand derer die Benutzerinnen und Benutzer nachweisen können, dass die Wiederverwendung von Baumaterialien in neuen Gebäuden die Treibhausgasemissionen um bis zu 60 % reduzieren kann, obwohl die Masse eines Bauwerks um bis zu 40 % zunimmt.
Die originellen Beiträge von Jan Brütting zur Wiederverwendung werden von Praktikerinnen und Forschenden sehr gut aufgenommen. © 2020 Alain Herzog
Eine dringend benötigte Datenbank
Für Brütting würde die Schaffung einer schweizerischen – oder sogar europaweiten – Datenbank mit wiederverwendbaren Elementen die effektive Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft ermöglichen. Im Idealfall würde seine Software darauf zugreifen können, so dass den Konstrukteuren eine grosse Auswahl an Komponenten zur Verfügung stünde und damit die Restriktionen bei der Gestaltung neuer Strukturen verringert würden. «Datenbanken dieser Art befinden sich derzeit in der Entwicklung», sagt er. Er hat keinen Zweifel daran, dass die Wiederverwendung trotz der vielen noch bestehenden Hindernisse eine glänzende Zukunft hat. «Seit Beginn meiner Dissertation im Jahr 2016 habe ich definitiv einen Aufwärtstrend in der Zahl der wissenschaftlichen Publikationen über die Kreislaufwirtschaft in der Bauwirtschaft beobachtet, und die EU-Politik unterstützt eine zunehmende Anzahl von Forschungsprojekten, um dies zu fördern. Kürzlich veröffentlichte das Bundesamt für Umwelt sogar einen Bericht über die Wiederverwendung.»
Die Originalbeiträge von Jan Brütting zur Wiederverwendung werden von Praktizierenden und Forschenden sehr gut aufgenommen. Im vergangenen Jahr erhielt er den Hangai-Preis der International Association for Shell and Spatial Structures.
Modulare Konstruktionen
Brütting, der vom Bauingenieurwesen ebenso begeistert ist wie von der Architektur, hat die Software auch programmiert, um temporäre, ereignisspezifische Strukturen auf Basis von linearen Trägern und Kugelverbindern zu entwerfen. Dieses Konzept ähnelt dem MERO-System oder den modularen Möbeln von USM, allerdings mit einem grossen Unterschied: «Unsere Lösung bietet viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten als die heutigen modularen Bausysteme», meint Brütting, «dies könnte für Unternehmen interessant sein, die sich auf die Wiederverwendung von Materialien spezialisiert haben.»