Krebszellen unter Beschuss

Am PSI erhalten Krebskranke eine in der Schweiz einzigartige Therapie. Der Beschuss mit Protonen macht Tumoren den Garaus – und das so präzise wie mit keiner anderen Form der Bestrahlung.

Olga Jose aktiviert die Gegensprechanlage. Während die Radiologie-Fachfrau einen der vielen Bildschirme mit ihren Augen fixiert, fragt sie: «Können wir bitte den Strahl haben.» Auf einem Monitor sieht sie das Bild, das eine Kamera im nur wenige Meter entfernten Therapieraum aufnimmt. Dort, an einem der drei Behandlungsplätze für Protonentherapie am PSI, der sogenannten Gantry 3, liegt ein junger Mann ganz ruhig auf einer Liege. Der Patient wartet auf die Bestrahlung. Nachdem Jose erfahren hat, dass der geforderte Strahl abgerufen werden kann, drückt sie auf den Bestrahlungsknopf.

Fünfzig Meter entfernt, hinter der Gantry 3, beginnen nun positiv geladene Teilchen, sogenannte Protonen, ihre Reise zum Patienten. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 175 000 Kilometer pro Sekunde – fast zwei Drittel der Lichtgeschwindigkeit – fliegen sie auf den jungen Mann zu. Sie durchdringen Haut und Gewebe, bis sie den Endpunkt ihres rasanten Fluges erreichen: die Krebszellen, die das Leben des Patienten bedrohen.

Der bleistiftdicke Protonenstrahl steuert sein Ziel äusserst präzise an. Nur weniger als einen Millimeter kann er davon abweichen und benachbartes, gesundes Gewebe treffen. «Im Vergleich zu anderen Bestrahlungsmethoden, beispielsweise mit Photonen, ist das eine sehr schonende Behandlung», sagt Barbara Bachtiary, Radioonkologin am PSI.

An dieser Meisterleistung der Präzision haben viele Mitarbeitende des PSI ihren Anteil. Mediziner, Physiker und Techniker arbeiten am Zentrum für Protonentherapie ZPT tagtäglich daran, Protonen möglichst genau in Tumore zu lenken und diese zu zerstören. Dabei bauen sie auf ihr jeweiliges Expertenwissen, die richtige Infrastruktur und viele Jahre Erfahrung. Hier, in Villigen, werden Krebspatienten immerhin schon seit 35 Jahren mit massgeschneiderter Protonentherapie behandelt. Massgeschneidert heisst: die richtige Dauer, Intensität und Häufigkeit der Bestrahlung am richtigen Ort. Mit einer derart individuell angepassten Strahlentherapie haben die Spezialisten am PSI schon mehr als 8000 Krebspatienten geholfen, ihre Erkrankung zu besiegen.

Diagnose: Krebs

Auch der junge Patient – nennen wir ihn Noah Schmid – ist wegen dieser technologisch fortschrittlichsten Methode zur Krebsbestrahlung ans PSI gekommen.

Die ersten Krankheitszeichen seien ganz unspezifisch gewesen, erinnert er sich: Schnupfen und leichte Kopfschmerzen. Als keine Medikamente halfen, sei er zum Arzt gegangen. Schon nach wenigen Untersuchungen stand fest: Eine seltene Krebsgeschwulst breitete sich in seinen Nebenhöhlen und im Rachenraum aus, wucherte entlang der Riechnerven zum Gehirn und befiel einen Lymphknoten nach dem anderen, bis hinunter zum Hals. Keine Frage: Der Tumor musste raus. Doch durch die Nähe zu den Sehnerven durften die Chirurgen nur sehr vorsichtig operieren und konnten nicht alle bösartigen Zellen entfernen. Es folgten Chemotherapie und eine Anfrage beim Paul Scherrer Institut. Die Ärzte wussten: Am PSI gibt es die Protonentherapie, und die kann Noah Schmid helfen.

«Krebszellen wachsen oft sehr nahe an empfindlichen Strukturen wie Sehnerv, Innenohr oder Rückenmark», erklärt Barbara Bachtiary. «Herkömmliche Strahlentherapie würde diese Strukturen ebenfalls treffen und dadurch Nebenwirkungen verursachen.» Die Protonentherapie hingegen ist von allen Bestrahlungsarten gegen Krebs diejenige, welche am genauesten gerichtet und dosiert werden kann. Das schont gesundes Gewebe. Deshalb verwenden Ärzte diese Form der Bestrahlung vor allem bei Tumoren im Kopf- und Halsbereich, wo oft wenige Millimeter darüber entscheiden, ob ein Patient beispielsweise erblindet oder sein Gehör verliert. So fürchtet auch Noah Schmid um sein Augenlicht. Seine Stimme wird leise, als ihm Bachtiary behutsam erklärt, wie nah der Protonenstahl an den Sehnerv herankommen wird: fünf Millimeter. Diese Sicherheitszone will die Ärztin unbedingt einhalten.

Um die Bestrahlung so genau wie möglich zu planen, werden von jedem Patienten zunächst aktuelle Schichtbilder vom Kopf und Hals angefertigt. Zu diesem Zweck hat das ZPT eigene medizinische Grossgeräte wie Computertomograf (CT) und Magnetresonanztomograf (MRT). Die Geräte liefern sehr detaillierte Bilder, die Kopf und Hals in Schichten von weniger als einem Millimeter Dicke zeigen. Auf den schwarz-weissen Aufnahmen erkennt Bachtiary die Knochenstrukturen und Weichgewebe, wie etwa Nervenstränge. Am Monitor zeichnet sie mit dünnen, farbigen Linien die Umrisse von empfindlichen Strukturen und Tumorresten nach. Das erfordert Übung, doch die Ärztin hat in ihrem Leben schon zigtausende Aufnahmen gesehen.

Diese Bilder sind dann die Grundlage für die Behandlung und das wichtigste Werkzeug für den Bestrahlungsplan: Rot schraffiert ist der Bereich, den die Protonen am stärksten treffen sollen, also Krebsgewebe und befallene Lymphknoten. Eine blaue Fläche daneben zeigt die Areale, welche vielleicht auch noch Tumorzellen enthalten und ebenfalls mit einer starken Dosis bestrahlt werden sollen. Daneben folgen gelbe Areale, wo gefährdete Strukturen liegen und nur eine schwache Protonendosis auftreffen darf. Grün umrahmt sind schliesslich noch einzelne Krebszellnester entlang der Blut- und Lymphgefässe am Hals.

Sicherheit durch Teamarbeit

Schon im Vorfeld der Bestrahlungsplanung haben sich die Mediziner am PSI bei jenen Ärzten über den Patienten informiert, die ihn vorher behandelt hatten.

«Wir legen sehr viel Wert auf die enge Zusammenarbeit mit den Medizinern der zuweisenden Kliniken und schätzen den fachlichen Austausch mit allen Schweizer Universitäts- und Kantonsspitälern. In den letzten drei Jahren wurden uns die meisten Patienten aus dem Universitätsspital Zürich, dem Inselspital Bern und den Kantonsspitälern St. Gallen und Aarau zugewiesen», sagt Damien Charles Weber, Leiter und Chefarzt des ZPT.

«Wir legen sehr viel Wert auf die enge Zusammenarbeit mit den Medizinern der zuweisenden Kliniken. »      Damien Charles Weber, Leiter und Chefarzt des Zentrums für Protonentherapie ZPT

Bei Noah Schmid dauerte es knapp drei Wochen, bis der Behandlungsplan ausgearbeitet war und er seine erste Bestrahlung erhielt. Bachtiary hatte ihm die Therapie eingehend erklärt: Bei der Behandlung schädigt ein gebündelter Strahl von Protonen die Erbsubstanz DNA in seinen Krebszellen, wodurch diese ihre Fähigkeit zur Zellteilung und Vermehrung verlieren und absterben. Der entscheidende Vorteil bei der Bestrahlung mit Protonen: Die schnellen schweren Teilchen lassen sich sehr gut lenken und bremsen, damit sie ihre maximale Energie nur im Tumor deponieren. Sie verlieren bloss sehr wenig Energie auf dem Weg dorthin und stoppen exakt im Tumorgewebe, was wiederum gesundes Gewebe vor und hinter der Geschwulst schont. Der Erfolg der Protonentherapie hängt also letztlich davon ab, dass die Bestrahlung des Tumorgewebes so exakt wie möglich erfolgt.

Patient Schmid weiss, dass er sieben Wochen lang jeden Tag ans PSI kommen und auf dem Behandlungstisch der Gantry 3 möglichst regungslos liegen muss. Obwohl eine einzelne Bestrahlung in ein bis zwei Minuten vorbei ist, kann ein ganzer Bestrahlungsdurchgang mit Umlagerung des Patienten über eine Stunde dauern.

Bloss nicht bewegen

Doch bevor es losgeht, muss Schmid es geduldig über sich ergehen lassen, dass die Radiologie-Fachfrau Olga Jose ihm ein Kissen und eine Kopfmaske aus Kunststoff anpasst. Beides wird mit Druckknöpfen an der Behandlungsliege in der Gantry befestigt. «Für einige Patienten ist es unangenehm, wenn sie ihren Kopf und ihr Gesicht während der Bestrahlung nicht bewegen können», erklärt Jose. «Die Maske hilft, dass wir sie an jedem Tag der mehrwöchigen Behandlung genau gleich positionieren können.» Trotzdem dauert es vor der ersten Bestrahlung noch eine halbe Stunde, bis sich Kopf, Hals und Schultern des Patienten an genau demselben Ort in der Bestrahlungsposition befinden wie auf den Planungsbildern vorgesehen. Die Übereinstimmung kontrollieren Jose und Bachtiary noch einmal gemeinsam.

Die Radiologie-Fachfrau fährt die Gantry auf die erste Bestrahlungsposition für die nun anstehende Behandlung, dann verlässt sie den Bestrahlungsraum und begibt sich in den Kontrollraum, von dem aus sie das Verfahren starten kann. 

Die Sicherheit im Blick

Hier zeigen neunzehn Monitore Bilder der Kameras aus dem Behandlungsraum, den Weg des Protonenstrahls, die Funktionsfähigkeit der Sicherheitssysteme und vieles mehr. Besonders wichtig: der Bestrahlungsplan. Aufmerksam blickt Jose auf einen Bildschirm nach dem anderen. Sie kontrolliert die richtige Position, die Reihenfolge der Bestrahlungsfelder und beobachtet, ob der Patient ruhig liegt. Alles scheint okay. Die Maschinerie, die für eine ordnungsgemässe Bestrahlung des Patienten sorgt, arbeitet reibungslos.

Kopf und Hals des Patienten werden aus vier verschiedenen Richtungen bestrahlt. Deshalb muss die Gantry beziehungsweise ihr Bestrahlungskopf um den Patienten herumgedreht werden. Hinter einer weissen Wand verborgen, arbeiten dafür zwei Elektromotoren mit jeweils zehn PS, um den gewaltigen Drehkörper der Gantry mit 220 Tonnen zu bewegen.

Bestrahlungstechnik am PSI entwickelt

Im Bestrahlungsraum verrät kein Geräusch, dass die Protonen nun mit zwei Drittel der Lichtgeschwindigkeit in den Körper von Noah Schmid eindringen und im Tumor abrupt stoppen. Wie bei einer Vollbremsung geben sie dabei ihre ganze Energie ab und erreichen damit ihre maximale Wirkung. Hinter diesem Energieabfall, Bragg Peak genannt, kommt keine Strahlung mehr an. Diese besondere physikalische Eigenschaft der Protonen liegt der Spot-Scanning-Technik zugrunde, die vor über zwanzig Jahren hier am PSI entwickelt wurde. Damien Weber: «Das Verfahren verhalf der Protonentherapie weltweit zum Durchbruch, denn es ermöglichte überhaupt erst, Patienten in angemessener Zeit zu behandeln und sehr unregelmässig geformte Tumore exakt zu bestrahlen.» Bei der Spot-Scanning--Technik rastert der bleistiftdünne Protonenstrahl den Tumor von hinten nach vorne, Ebene für Ebene und Reihe für Reihe ab: zuerst die am tiefsten liegende Schicht des Tumors und dann die nächsthöher liegende und so fort. Ohne die damit erreichbare Präzision hätten Patienten wie Noah Schmid ebenso wenig eine Chance auf eine erfolgreiche Behandlung wie viele Kinder.

«Bei Kindern liegen empfindliche Organe und Strukturen sehr nah beieinander. Ihre Zellen haben noch viele Zellteilungen vor sich und somit Jahrzehnte Zeit, Mutationen zu bilden und zu entarten. Deshalb sollte man ihre Zellen im Kindesalter möglichst wenig ionisierenden Strahlen aussetzen, die ein zusätzliches Risiko darstellen. Zudem vertragen sie nur eine geringe Strahlendosis», erklärt Weber. «Wenn Kinder Krebs haben, ist die viel genauer anwendbare Protonentherapie für sie besser geeignet als herkömmliche Strahlentherapie mit Photonen. Diese lassen sich nicht so gut fokussieren, weil sie ihre Energie nicht so punktgenau abgeben wie Protonen. Deshalb schädigen sie auch Gewebe vor und hinter den Tumoren oft stärker.» Das Team am ZPT hat bei der Protonenbestrahlung der kleinen Krebspatienten grosse Erfahrung: Unterstützt von Kinder- und Narkoseärzten wurden hier schon über 500 Kinder behandelt, die meisten von ihnen nach genau definierten Therapieprotokollen im Rahmen internationaler Studien.

Nachsorge zum Wohl der Patienten

Alle wichtigen Informationen zur Behandlung und zum Befinden der kleinen und grossen Patienten werden akribisch in einer Datenbank gesammelt. Ulrike Kliebsch, die am ZPT für Patientenstudien verantwortlich ist, erzählt: «Bei uns laufen regelmässig Studien zur Wirksamkeit unserer Therapie. Zudem werden Kinder im zentralen Kinder-Krebs-register der Schweiz erfasst. Das erlaubt später Rückschlüsse auf die wirksamsten Bestrahlungsparameter, allfällige Nebenwirkungen und die Lebensqualität. Tumore bei Kindern sind sehr selten und man will möglichst viel darüber wissen.»

Wenn ein Patient seine Bestrahlung beendet hat, erfolgt nach acht bis zwölf Wochen die erste Kontrolluntersuchung, danach meist halbjährlich oder jährlich. Diese Nachsorge liegt allen Mitarbeitenden besonders am Herzen. Manche Patienten schicken später Postkarten und Dankesbriefe oder kommen fit und gesund persönlich vorbei. Das ist für das Team am ZPT das Schönste.

Noah Schmid hat seine erste Bestrahlung hinter sich. Die Maske wird ihm abgenommen und er streckt sich. Das reglose Liegen war anstrengend. Bachtiary und Jose reichen ihm die Hand und verabschieden ihn. Bis zum nächsten Tag.

Text: Sabine Goldhahn

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