Ein Schritt zu einem besseren Verständnis der Molekulardynamik

Forschende der EPFL, die an der Grenze zwischen klassischer und Quantenphysik arbeiten, haben eine Methode entwickelt, um Moleküle mit besonders interessanten Elektroneneigenschaften schnell aufzuspüren.
© 2020 EPFL/LCPT

Die Lasertechnologie ermöglicht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen immer genaueren Einblick in molekulare Strukturen, was manchmal zu sehr interessanten Überraschungen führt. Am Laboratorium für Theoretische Physikalische Chemie (LCPT) der EPFL stösst ein Forschungsteam, das die Dynamik von polyatomaren Molekülen – Moleküle, die aus mehreren Atomen bestehen – untersucht, auf eine solche Überraschung. Sie stellten fest, dass sich die Elektronen in diesen Molekülen ganz anders bewegen, als man es in isolierten Atomen erwarten würde.

In isolierten Atomen sind die Schwingungen der Elektronendichte regelmässig, aber in den meisten polyatomaren Molekülen werden die Schwingungen schnell gedämpft. Dieser Vorgang wird als Dekohärenz bezeichnet. Bei einigen Molekülen dauern die Schwingungen jedoch länger, bevor die Dekohärenz einsetzt. Die Forschenden der EPFL haben eine Methode entwickelt, die den physikalischen Mechanismus der Dekohärenz erfasst und es ihnen somit ermöglicht, Moleküle mit lang anhaltenden Kohärenzen zu identifizieren. Ihre Methode könnte sich bei der Entwicklung einer neuen Technologie auf Elektronenbasis oder bei der Untersuchung von Quanteneffekten in Biomolekülen als interessant erweisen. Die Ergebnisse wurden kürzlich in Physical Review Letters veröffentlicht.

«Die Elektronenbewegung findet extrem schnell statt – auf einer Attosekundenskala – daher ist es sehr schwierig, sie zu beobachten», sagt Nikolay Golubev, ein Post-Doc am LCPT und Hauptautor der Studie. Darüber hinaus ist die Elektronenbewegung stark an andere Prozesse in einem Molekül gekoppelt. Aus diesem Grund hat das Forschungsteam zusätzliche Informationen in seine Studie aufgenommen: die langsamere Dynamik der Atomkerne und ihren Einfluss auf die der Elektronen. Es wurde festgestellt, dass in den meisten Molekülstrukturen die langsame Kernumlagerung die anfänglich kohärenten Schwingungen der Elektronen dämpft und sie innerhalb weniger Femtosekunden verschwinden lässt.

Ein semiklassischer Ansatz

Um festzustellen, ob dieses Phänomen tatsächlich stattfindet, entwickelten die Forschenden eine theoretische Technik für eine genaue und effiziente Beschreibung der Dynamik von Elektronen und Kernen, nachdem die Moleküle durch ultrakurze Laserpulse ionisiert wurden. Sie benutzten dabei einen als semiklassisch geltenden Ansatz, der Quantenmerkmale, wie die gleichzeitige Existenz mehrerer Zustände, und klassische Merkmale, nämlich klassische Trajektorien, die die molekularen Wellenfunktionen leiten, kombiniert. Diese Methode erlaubt es den Forschenden, den Dekohärenzprozess viel schneller zu erkennen, wodurch es einfacher wird, viele Moleküle zu analysieren und somit diejenigen zu erkennen, die möglicherweise lang anhaltende Kohärenzen aufweisen könnten.

«Die Schrödinger-Gleichung für die Quantenentwicklung der Wellenfunktion eines polyatomaren Moleküls exakt zu lösen, ist selbst mit den größten Supercomputern der Welt unmöglich», sagt Jiri Vanicek, Leiter des LCPT. «Der semiklassische Ansatz ermöglicht es, das unbehandelbare Quantenproblem durch ein immer noch schwieriges, aber lösbares Problem zu ersetzen, und bietet eine einfache Interpretation, bei der das Molekül als eine Kugel betrachtet werden kann, die auf einer hochdimensionalen Landschaft rollt.»

Um ihre Methode zu veranschaulichen, wandten die Forschenden sie auf zwei Verbindungen an: die Propilinsäure, deren Moleküle eine lang anhaltende Kohärenz aufweisen, und das Propiolamid (ein Derivat der Propilinsäure), bei dem die Dekohärenz schnell ist. Das Team hofft, seine Methode bald auch an Hunderten anderen Verbindungen testen zu können.

Ihre Entdeckung stellt einen wichtigen Schritt zu einem tieferen Verständnis der molekularen Strukturen und Dynamik dar und dürfte ein nützliches Werkzeug für die Beobachtung der langlebigen elektronischen Kohärenz in Molekülen sein. Gestützt auf ein besseres Verständnis des Dekohärenzprozesses könnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines Tages in der Lage sein, genau zu beobachten, wie sich Moleküle beispielsweise in biologischem Gewebe verhalten, oder neuartige elektronische Schaltkreise zu schaffen.

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Links

Laboratory of Theoretical Physical Chemistry (LCPT)
Wissenschaftlicher Artikel

Literaturhinweise

«On-the-Fly Ab Initio Semiclassical Evaluation of Electronic Coherences in Polyatomic Molecules Reveals a Simple Mechanism of Decoherence», Nikolay V. Golubev, Tomislav Begušić, und Jiří Vaníček. Veröffentlicht in Physical Review Letters am 17. August 2020