Ein kasachisches Experiment zum Thema Handschrift

Neue Forschungsergebnisse der EPFL zur Frage, ob sich die Handschriftfähigkeiten übertragen, wenn ein Kind in zwei verschiedenen alphabetischen Schriften schreibt, könnten den Weg für sprachübergreifende digitale Tools zur Erkennung von Handschriftschwierigkeiten ebnen.
Mädchen lernt schreiben © 2021 EPFL

Trotz der zunehmenden Digitalisierung der Bildung und des Einsatzes von Tablets und Laptops in Schulen hat die Handschrift ihre zentrale Stellung beim Lernen als Grundlage vieler zentraler Bildungsaktivitäten, wie Notizen machen, Geschichten verfassen und Selbstdarstellung, beibehalten. Sie ist zudem ein komplexes Geschehen, das Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, sprachliche und feinmotorische Fähigkeiten erfordert.

Dennoch hat etwa jedes vierte Kind Schwierigkeiten mit der Handschrift, und dies kann anhaltende Auswirkungen auf die Entwicklung haben, wie beispielsweise Lernschwierigkeiten, erhöhte Ermüdung und Verhaltensprobleme sowie geringes Selbstwertgefühl. Eine frühzeitige Erkennung kann der Schlüssel für eine erfolgreiche Intervention sein.

Tablets und KI zum Sammeln besserer Informationen

Nun hat ein neues EPFL-Spin-off, School Rebound, Dynamico entwickelt, ein Handschrift-Analyse-Tool, das eine schnelle, genaue und zuverlässige Analyse der Handschrift ermöglicht, mehrere Dimensionen bewertet und durch verschiedene Aktivitäten, die auf spezifische Handschrift-Fähigkeiten abzielen, passende Förderung bietet.

Der EPFL-Forscher und School Rebound CEO, Dr. Thibault Asselborn, sagt, dass Dynamico durch die Analyse der Handschrift eines Kindes, die auf einem Tablet durchgeführt wird, viermal mehr Informationen sammeln kann als bei traditionell verwendeten, analogen Tests: «Unsere Forschung hat gezeigt, dass alle Geschwindigkeits- und Druckdaten sowie der Winkel des Schreibwerkzeugs, obwohl sie mit dem blossen Auge nicht wahrnehmbar sind, wichtiger sind als statische Informationen. Unser Tool beseitigt auch die subjektive menschliche Voreingenommenheit.»

Die Anwendung wurde in Zusammenarbeit mit Therapeutinnen und Therapeuten entwickelt und nutzt künstliche Intelligenz, um innovative Fördermassnahmen vorzuschlagen, die auf jedes Kind und seine Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Ein einzigartiges kasachisches Experiment

Zunächst ist die App auf Französisch verfügbar, Italienisch, Englisch und Deutsch sind in Vorbereitung. Die neuesten Forschungsergebnisse des Teams um Professor Pierre Dillenbourg, Leiter des Computer-Human Interaction in Learning and Instruction Laboratory (CHILI ), die in der Fachzeitschrift Nature Science of Learning veröffentlicht wurden, haben gezeigt, dass die App auch für verschiedene Schriften oder Alphabete entwickelt werden kann.

Die Forschenden fragten sich, ob sich die Handschriftfähigkeiten übertragen, wenn ein Kind in zwei verschiedenen Schriften schreibt, wie z.B. dem lateinischen und dem kyrillischen Alphabet. Sind also unsere Handschriftfähigkeiten intrinsisch an ein Alphabet gebunden oder wird ein Kind, das in einer Schrift Schwierigkeiten hat, ähnliche Schwierigkeiten in der anderen haben? Eine kürzliche Änderung der Politik in Kasachstan bot die Gelegenheit, dies zu messen, als das Land vom kyrillischen zum lateinischen kasachischen Alphabet wechselte.

Die Forschenden verfolgten Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 bis 4 und massen den Einfluss der Anzahl der Jahre, die sie mit dem Üben der kyrillischen Schrift verbracht hatten, auf die Qualität der Handschrift im lateinischen Alphabet. Die Ergebnisse zeigten, dass einige der Unterschiede zwischen den beiden Schriften über alle Klassenstufen hinweg konstant waren, was die intrinsischen Unterschiede in der Handschriftendynamik zwischen den beiden Alphabeten widerspiegelt. Sie beobachteten auch, dass trotz der Unterschiede zwischen den beiden Alphabeten (der Druck, die Geschwindigkeit und andere Faktoren sind unterschiedlich, wenn ein Kind in kyrillisch oder lateinisch schreibt) der Unterschied über die Kinder hinweg konstant ist. Das heisst, ein Kind, das Schwierigkeiten mit der Handschrift in Kyrillisch hatte, hat auch Schwierigkeiten im lateinischen Alphabet.

Sie fanden heraus, dass die Qualität des kyrillischen Schreibens über alle Klassenstufen hinweg aufgrund der vermehrten Übung zunahm, während gleichzeitig auch die Qualität des lateinischen Schreibens zunahm, obwohl alle Schülerinnen und Schüler die gleiche fehlende Erfahrung im Schreiben in Latein hatten. Diese Verbesserung der lateinischen Schrift kann als Indikator für den Transfer der feinmotorischen Fähigkeiten von der kyrillischen zur lateinischen Schrift interpretiert werden.

Sprachübergreifende Möglichkeiten

«Ein interessanter Aspekt dieser Ergebnisse ist, dass die Algorithmen, die wir für die Diagnose von Handschriftschwierigkeiten bei französischsprachigen Kindern entwickelt haben, auch für andere Alphabete relevant sein könnten, was den Weg für die Erstellung eines sprachübergreifenden Modells für die Erkennung von Handschriftschwierigkeiten ebnet», so Professor Dillenbourg.

Die Entwicklung digitaler Tablets im letzten Jahrzehnt hat es den Forschenden ermöglicht, diese Probleme anzugehen, da die Dynamik der Handschrift nun bewertet werden kann. Diese Studie zeigt das Potenzial für die Entwicklung von Tests für verschiedene Alphabete oder Schriften, etwas, das es bisher nicht gab.