«Wir müssen als Katalysator agieren»

Für den Präsidenten des ETH-Rats, Michael Hengartner, ist es Aufgabe des ETH-Rats, mit Plattformen den Austausch zwischen Wissenschaft und Politik zu fördern. (2/3)
Gemäss Michael Hengartner soll der ETH-Rat als Katalysator für Initiativen wirken, damit die Wissenschaft die politische Welt besser erreicht. (© ETH-Rat)

Der ETH-Rat hat im März 2020 die wissenschaftliche Task Force ins Leben gerufen, um den Bund und die Kantone bei der Entscheidfindung im Kampf gegen Covid-19 zu beraten. Motiviert Sie diese Erfahrung, die Aktivitäten des ETH-Rats zunehmend auf die wissenschaftliche Expertise im Dienst der Politik auszurichten?

Absolut, ja. Ich bin der Ansicht, dass der ETH-Rat als Katalysator für Initiativen agieren muss, die es der Wissenschaft erlauben, die politischen Akteure besser zu erreichen. Unsere Beteiligung an der Gründung der Task Force war bereits ein Schritt in diese Richtung. Eine unserer Hauptaufgaben ist die Förderung des Transfers von wissenschaftlichem Know-how. Bereits jetzt findet ein grosser Wissenstransfer zwischen unseren Institutionen und der Bevölkerung, den Medien und der Wirtschaft statt – etwa im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprojekten und der Gründung von Startups, aber auch mit den Behörden wird das Wissen in vielen Fällen geteilt. Es scheint mir sehr wichtig, dass die Schweiz über Beratungsgremien verfügt, die ähnlich funktionieren wie die Task Force, um weitere Themen nationaler Bedeutung anzugehen, wie die Energiewende, den Klimawandel, die Nachhaltigkeit oder die Digitalisierung.

«Denn Wissenschaft und Politik haben verschiedene Funktionen.»     

Haben Sie eine Strategie, wie Sie dies umsetzen wollen?

Noch ist es zu früh, um aus unserer Erfahrung mit der Task Force Lehren zu ziehen. Erst wenn wir die Krise überwunden haben, werden wir dies tun können. Bereits jetzt führen wir aber Gespräche zu den Themen Klimawandel und Nachhaltigkeit. Wie beim Coronavirus geschieht dies auch hier auf zwei Ebenen: Einerseits müssen diese Überlegungen in eine neue Funktionsweise der Institutionen des ETH-Bereichs einfliessen, über die wir etwa unsere eigenen CO2-Emissionen senken oder den Übergang zu Online-Vorlesungen beschleunigen können. Und andererseits wollen wir unsere Kompetenzen und unsere Expertise in den Dienst der Gesellschaft stellen. Aber die genannten Themen sind schwieriger zu behandeln als die Covid-19-Epidemie, da deren Auswirkungen weniger sichtbar sind und sich nur nach und nach zeigen.

Sind Sie der Ansicht, dass Politikerinnen und Politiker den Empfehlungen der wissenschaftlichen Ausschüsse folgen müssen?

Die Politik kann die Empfehlungen nicht komplett ausser Acht lassen, denn sie muss ja informierte Entscheidungen treffen. Aber natürlich können andere politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Überlegungen dazu führen, dass sie gewissen Empfehlungen nicht folgt. Denn Wissenschaft und Politik haben verschiedene Funktionen.

Unabhängigkeit ist ein Grundbedürfnis der Wissenschaft. Haben diese Ausschüsse nicht eine zu grosse Nähe zu politischen Entscheidungsträgern, um sich deren Einflussnahme entziehen zu können?

Entscheidend ist die Frage, ob sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesen Gremien frei äussern können oder nicht. Wenn dies der Fall ist, ist die wichtigste Voraussetzung bereits gegeben. Entscheidend ist jedoch, dass die Empfehlungen intelligent formuliert werden, denn es sind die Expertinnen und Experten, die das Vertrauen der Regierung gewinnen, die schlussendlich am meisten Einfluss auf die Politik nehmen können… Es ist ein beidseitiges Geben und Nehmen: Die Wissenschaftler nehmen Einfluss auf die Politiker und die Politiker wiederum auf die Wissenschaftler. Dies muss man akzeptieren, wenn man als Forscherin oder Forscher politisch etwas bewegen möchte.

Natürlich müssen nicht alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Empfehlungen an die Politik abgeben oder sich in der Kommunikation mit der Bevölkerung einbringen. Einige bleiben lieber in ihren Labors oder Vorlesungssälen und das ist auch absolut in Ordnung. Denn die Wissenschaft braucht Vielfalt – und die Gesellschaft profitiert davon.

«Es ist wichtig, der Politik aufzuzeigen, welchen Mehrwert die öffentlichen Gelder, die uns zugesprochen werden, der Schweiz bringen.»     

Der ETH-Rat muss zum Wissenskatalysator werden. Eine nützliche Positionierung, um sich immer grössere Budgets zu sichern?

Es ist wichtig, der Politik aufzuzeigen, welchen Mehrwert die öffentlichen Gelder, die uns zugesprochen werden, der Schweiz bringen. Dazu gehört auch die wissenschaftliche Expertise, die den Behörden zugutekommt.

Für uns ist dies nicht Neues – mein Vorgänger hatte ein natürliches Flair für und eine grosse Affinität zur Politik. Den Politikerinnen und Politikern einmal im Jahr einen Besuch abzustatten reicht nicht. Die Covid-19-Krise hinterlässt in der Schweiz ein Defizit von mehreren Dutzend Milliarden Franken und eine beispiellose Wirtschaftskrise. Es wird zu einem harten Verteilungskampf um die öffentlichen Gelder kommen. Wir müssen alles daransetzen, dass der Bund den sehr konkreten Beitrag erkennt, den wir an die Entwicklung unseres Landes leisten.