Wissenschaft muss einordnen

Die Wissenschaft bezieht klar Position zum CO2-Gesetz. Auf Grund ihrer Expertise darf sie das nicht nur, sie muss, argumentiert Reto Knutti.
Auch in der Schweiz sind die Folgen des Klimawandels deutlich spürbar. Aus Sicht der Wissenschaft rechtfertigt die Dringlichkeit der CO2-​Problematik entschiedenes Handeln. Im Bild: Zürich. (Bild: Keystone)

In einer Stellungnahme unterstützen über Hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Schweizer Hochschulen und Forschungsanstalten klar das CO2-Gesetz.1 Gehen sie damit über ihre traditionelle Rolle hinaus? Ja. Und sie nehmen dabei ihre Verantwortung wahr.

Nackte Zahlen sind inhaltsleer

Im bekannten Buch «Per Anhalter durch die Galaxie» bauten die hyperintelligenten Wesen einen Computer von nie dagewesener Grösse, um die Frage «nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» zu klären. Die treffsichere Antwort war 42. Doch damit konnten die Wesen nichts anfangen, weil sie nicht wussten, was genau die Frage war.

Zahlen allein sind bedeutungslos. In Situationen, die wir aus früheren Erfahrungen gut einschätzen können, wo die Risiken überschaubar und die Konsequenzen von verschiedenen Entscheiden bekannt sind, reicht eine Zahl vielleicht, weil der Kontext klar ist. Zum Beispiel bei einer Frostwarnung: Eine Temperaturangabe von minus zwei Grad Celsius genügt, um zu entscheiden, ob man die Reben in der Nacht schützen muss.

Steht hingegen viel auf dem Spiel oder mangelt es uns an Erfahrung, etwa bei einer Krankheit, dann fehlt der Kontext. Einschätzungen von Experten sind dann eine wichtige Entscheidungshilfe. Oft holen wir sogar eine Zweitmeinung ein, um die Risiken, Handlungsoptionen und Konsequenzen möglichst umfassend zu verstehen.

Werte transparent machen

Völlig wertfreie Interpretationen gibt es nicht. Zahlen und Fakten werden erst durch eine bestimmte Perspektive eingeordnet, und davon gibt es immer mehrere. Mani Matter hat dies im Lied «Ir Ysebahn»2 treffend bildlich beschrieben: Zwei sitzen sich im Zug gegenüber, der eine sieht draussen alles was kommt, und der andere sieht das was vorbei ist. Obwohl beide im gleichen Zug sitzen und die gleiche Landschaft anschauen, streiten sie sich darüber, weil sie eine andere Perspektive haben.

«Es gibt keinen Grund, warum die Wissenschaft sich nicht einbringen sollte, solange sie die Fakten von den Szenarien und Interpretationen trennt und begründet, wie sie zu ihren Empfehlungen kommt.»      Reto Knutti

Zahlen erfordern also Kontext, Interpretation, eine Diskussion von Unsicherheiten, Vor- und Nachteilen aus verschiedenen Perspektiven, sei es der Ethik, der Wirtschaft, oder der Nachhaltigkeit. Dies erfordert Werturteile. Ist ein Risiko von einem Hangrutsch oder einer COVID-19-Infektion von einem Promille vertretbar? Was ist der Wert von einem Menschenleben? Führt der vorgeschlagene Weg zum erklärten Ziel?

Parteivertreter und Lobbyisten haben oft einfache Antworten parat, basierend auf den Werten und Interessen ihrer jeweiligen Organisation. Bei wichtigen politischen Fragen bringen sich stets verschiedenste Branchen und Akteure ein – auch beim CO2-Gesetz. Es gibt keinen Grund, warum die Wissenschaft dies nicht auch tun sollte, solange sie die Fakten von den Szenarien und Interpretationen trennt und begründet, wie sie zu ihren Empfehlungen kommt.

Politikdialog auf der Probe

Die Pandemie hat gezeigt: Der gesellschaftliche Diskurs kann mitunter schwierig sein. Die Wissenschaft reagiert genervt, wenn die Politik sie wiederholt ignoriert und dann behauptet, man hätte es nicht gewusst. Teile der Politik hingegen regen sich über die Kakophonie der Expertinnen auf und würden unangenehme Wahrheiten lieber nicht hören. Universitäten verfassen derweil Leitlinien zur Kommunikation und versuchen Dissens zu unterdrücken.

Doch genau das ist das Wesen der Demokratie. Der Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ist kritisch für die Meinungsbildung. Wir müssen den Diskurs (und Dissens) zulassen. Unterbinden lässt er sich im Zeitalter von sozialen Medien sowieso nicht mehr. 

Warum wir uns positionieren   

Die Wissenschaft kann, soll und will politische Entscheide nicht vorwegnehmen. Aber sie darf auf blinde Flecken und Gefahren hinweisen. Sie muss sogar: 2009 wurden in Italien Seismologen wegen Totschlag vor Gericht gestellt, weil sie ungenügend vor den Erdbeben gewarnt hatten.3

Für mich ist denn auch klar: Als Wissenschaftlerinnen ist es unsere Pflicht, die Konsequenzen von Massnahmen einzuordnen, aufzuzeigen ob das gewählte Vorgehen zum erklärten Ziel führt und darauf hinzuweisen, wenn Fakten verzerrt oder instrumentalisiert werden. Selbstverständlich darf eine Gesellschaft diese Empfehlungen ignorieren, und sie tut dies auch ab und zu. Sie sollte sich dabei aber stets bewusst sein, was auf dem Spiel steht.

Der Klimawandel ist real, unser Handeln ist die dominante Ursache für die Erwärmung. Das vom Parlament beschlossene Gesetz wird noch nicht ausreichen, aber es ist ein breit abgestützter Konsens und ein wichtiger Schritt in Richtung global Netto Null Treibhausgase – das Ziel zu dem sich die Schweiz mit der Ratifizierung von Paris verpflichtet hat.

Ohne das Gesetz verlieren wir entscheidende Jahre und erhöhen die Risiken von Hitzewellen, Starkniederschlägen und trockenen Sommern. Die Vorteile überwiegen die Kosten. Daher unterstützen wir als Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen das CO2-Gesetz.