«In Krisenzeiten muss die Wissenschaft klare und nachvollziehbare Empfehlungen abgeben»

Der ETH-Rat hat seit dem 1. Februar 2020 einen neuen Präsidenten, Michael Hengartner. In diesem Interview blickt er auf seine Anfangszeiten zurück und auf eine erste starke Massnahme: die Lancierung einer wissenschaftlichen Taskforce zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie, welche die Grundlage für die Swiss National COVID-19 Science Task Force bildete. (1/3)
Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rats seit 1. Februar 2020. (©ETH-Rat)

Vor fünf Monaten sind Sie von Ihrer Funktion als Rektor der Universität Zürich zurückgetreten. Wie fühlen Sie sich in Ihrer neuen, sehr viel politischeren Rolle als Präsident des ETH-Rats?

Gut! Die Politik bringt interessante und engagierte Menschen zusammen, die für ihre Ideen kämpfen. Zusammen repräsentieren sie unsere Gesellschaft und ich sehe es als meine Aufgabe, mit allen Parteien gute Beziehungen aufbauen. Für mich ist das nicht wirklich neu, denn an der Universität Zürich war ich in einer ähnlichen Situation mit den kantonalen Kommissionen.

Welche Aufgaben haben Sie als Erstes in Angriff genommen?

Auf die Mitglieder der für den ETH-Bereich relevanten parlamentarischen Kommissionen zugehen, um sie über unsere Tätigkeit und Bedürfnisse zu informieren und gleichzeitig auch ihre Anliegen anzuhören. Es ist sehr wichtig, bereits im Voraus den Weg zu ebnen, um bei späteren potenziell heiklen Situationen über gute Kontakte zu verfügen, wie etwa bei Budgetverhandlungen oder den Diskussionen um unsere Beziehung zu der Europäischen Union. Vertrauen muss man nach und nach aufbauen. Ich will beispielsweise unsere Arbeitsweise nicht radikal ändern. Aber eines ist mir wichtig: Ich will, dass der ETH-Rat in der Westschweiz sichtbarer wird. Dass ich mit der französischen Sprache aufgewachsen bin, dürfte da hilfreich sein.

Was vermissen Sie bei Ihrer neuen Stelle?

Den direkten Kontakt zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie den Studierenden, die ich in meinen Vorlesungen regelmässig gesehen hatte, und auch die Energie, die sie mir vermittelt hatten. Nun bin ich etwas weiter weg von der Basis. Ich werde aber versuchen, trotzdem zu meiner Dosis Wissenschaft zu kommen! Eröffnungsvorlesungen und Podiumsgespräche sind eine gute Gelegenheit, um den Kontakt mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den Studierendenvereinigungen aufrechtzuerhalten.

Sie sind Biochemiker. Fehlt Ihnen die Forschung?

Ja natürlich. Aber ich habe bereits 2014 entschieden, mein Labor zu schliessen, nachdem ich zum Rektor der Universität Zürich ernannt worden war. Experimentelle Forschung auf höchstem Niveau zu betreiben und gleichzeitig eine Institution wie diese zu leiten, erschien mir unmöglich.

«Am Samstag, 14. März 2020 habe ich die Einrichtung einer solchen Taskforce mit den Präsidenten der beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen besprochen.»     

Was hat Sie am meisten überrascht, seit Sie beim ETH-Rat sind?

Natürlich die Covid-19-Krise. Schon seit Februar 2020 ist dies unsere absolute Top-Priorität. Es ist bei uns dann auch sehr schnell konkret geworden, da Studentinnen und Studenten der ETH Zürich und der EPFL, die aus China zurückgekehrt waren, in Quarantäne mussten.

Haben Sie bereits etwas realisiert, auf das Sie stolz sind?

Die Geschwindigkeit, mit der wir die wissenschaftliche Taskforce auf die Beine gestellt haben. Am Samstag, 14. März 2020 habe ich die Einrichtung einer solchen Taskforce mit den Präsidenten der beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen, Joël Mesot und Martin Vetterli, telefonisch besprochen. Die Verantwortlichen der sechs Institutionen des ETH-Bereichs haben dann die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einen Beitrag zur Taskforce leisten konnten, identifiziert und eingeladen. Alle haben sehr schnell geantwortet. Ein gutes Dutzend Personen, die alle bereit waren, innerhalb von nur einer Stunde ihre Zusage zu einem unentgeltlichen Einsatz zu geben – sowas habe ich noch nie erlebt! Aber die Leute wollten helfen und es war klar, dass der Faktor Zeit in dieser exponentiellen Wachstumsphase der Epidemie absolut entscheidend war. Am Donnerstag, 19. März konnten wir bereits die Lancierung der Taskforce ankünden.

Welches Ziel verfolgte die Taskforce?

Wir wollten zunächst die Massnahmen koordinieren, um die Epidemie innerhalb der Institutionen des ETH-Bereichs in den Griff zu bekommen. Zudem wollten wir auch unsere lokalen Partner in ihren Bemühungen unterstützen: Durch Mobilisierung unserer Labors die Covid-19-Testkapazitäten auszubauen, Schutzausrüstungen für die Spitäler herzustellen, epidemiologische Modelle zu erstellen usw.

Es ging also nicht darum, die Schweizer Regierung zu beraten?

Bevor man Ratschläge erteilt, muss man meiner Meinung nach zuerst zeigen, dass man weiss, wovon man spricht – «do your homework first», wie man im Englischen sagt. Es ging in erster Linie darum, Impulse zu setzen und zu koordinieren, denn wir spürten die riesige Bereitschaft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Studierenden und Mitarbeitenden, mit ihrem Know-how einen Beitrag zur Bekämpfung der Epidemie zu leisten.

«Während einer Krise ist es normal, dass die Behörden ihr eigenes Netzwerk aktivieren, in das sie bereits Vertrauen haben.»     

Zehn Tage später verliess die Taskforce den ETH-Bereich, um auf nationaler Ebene weiterzuarbeiten. Sahen Sie dies mit Bedauern?

Nein, im Gegenteil. Matthias Egger, der Präsident des Nationalen Forschungsrats Schweizerischen Nationalfonds (SNF), hat mich sofort angerufen und wir haben zusammen entschieden, den Präsidenten der Akademien der Wissenschaften Schweiz, Marcel Tanner, und den Präsidenten von swissuniversities, Yves Flückiger, einzuladen. Dann haben wir die Regierung – den Bundesrat, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) – um ein offizielles Mandat ersucht: das verfügbare wissenschaftliche Know-how zu bündeln, um die Behörden bei der Krisenbewältigung zu unterstützen. Ab diesem Punkt fiel die Taskforce nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des ETH-Rats und ich habe mich zurückgezogen.

Der Bund hätte von sich aus einen solchen beratenden Ausschuss ins Leben rufen können, und zwar schon früher...

Während einer Krise ist es normal, dass die Behörden ihr eigenes Netzwerk aktivieren, in das sie bereits Vertrauen haben. Anfangs haben wir einen fehlenden Austausch zwischen der Bundesverwaltung und den akademischen Kreisen festgestellt.

Wir mussten erst lernen miteinander zu reden… Einige Mitglieder der Taskforce hatten die Aussagen des BAG kritisiert, worauf das BAG die wissenschaftliche Gemeinschaft gebeten hat, vor dem Kontaktieren der Medien zuerst mit dem Amt zu reden. Die Taskforce erstellt unabhängig Empfehlungen basierend auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Politik stützt ihre Entscheidungen dann auf diese Empfehlungen, aber auch auf weitere relevante Aspekte in anderen Bereichen. Diese Aufgabenteilung ist absolut üblich.

Man darf auch nicht vergessen, dass diese Empfehlungen einen gewissen wissenschaftlichen Konsens darstellen. Das reduziert die Gefahr von Missklängen, wenn die von der Regierung beauftragten Expertinnen und Experten sich bei ihren Analysen widersprechen, wie dies manchmal in anderen Ländern der Fall war. In Krisenzeiten muss die Wissenschaft klare und nachvollziehbare Empfehlungen aussprechen.