«Man muss alles delegieren, was man kann»

Der Präsident des ETH-Rats skizziert seine Vision, die Autonomie der Institutionen zu unterstützen und Synergien mit allen Forschungsakteuren des Landes, einschliesslich der Universitäten und Fachhochschulen, zu schaffen. (3/3)
Für den Präsidenten des ETH-Rats, Michael Hengartner, erinnert die Situation des internationalen Wettbewerbs an das, was die Rote Königin von Alice im Wunderland sagte: Man muss immer schneller laufen, um an Ort und Stelle zu bleiben. Und wenn man besser werden will, muss man noch schneller laufen...

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für den ETH-Bereich?

Zunächst einmal müssen unsere Forschungseinrichtungen auf eine Kultur der Offenheit in unseren Beziehungen zum Ausland, insbesondere zur Europäischen Union, zählen können. Die Schweiz muss in der Lage sein, national und international die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu rekrutieren, und sie muss es ausländischen Studierenden ermöglichen, hier bleiben zu können und so einen Beitrag für unsere Wirtschaft zu leisten. Die Tatsache, dass die Schweiz eines der innovativsten Länder ist, hängt mit ihrer Offenheit und dem internationalen Wettbewerb zusammen sowie mit der Fähigkeit, Menschen mit anderem Hintergrund zu integrieren. Die Qualität unserer Institutionen wird nicht in erster Linie durch ihre Infrastruktur bestimmt, sondern durch die Qualität der Menschen, die dort arbeiten. Es ist wie bei einem Fussballklub – nur dass wir nach den besten Köpfen und nicht nach den besten Füssen suchen!

Die aktuelle COVID-19-Pandemie hat dennoch eine nationalistische Gegenreaktion ausgelöst.

Ich bin nicht allzu besorgt, denn die Corona-Krise kann nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden. Nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht: Alle Länder sind voneinander abhängig, auch in Bezug auf den Handel. Dasselbe gilt für alle grossen gesellschaftlichen Herausforderungen wie beispielsweise Energie, Klima und Digitalisierung.

«Jede Verantwortungsebene darf nur die Kompetenzen behalten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Alles andere muss nach unten delegiert werden.»      Michael Hengartner

Wird mehr Geld nötig sein?

Wir brauchen eine solide Finanzierung, aber wir können uns nicht allein auf die öffentliche Hand verlassen. Wir müssen uns auch anderswo um Geld bemühen, natürlich mit Kooperationen, aber auch mit der Entwicklung des Sponsorings, das sich in der Schweiz zunehmend für die wissenschaftliche Forschung zu interessieren beginnt. Wir müssen die Zusammenarbeit verstärken, was uns effizienter machen wird. Die Konkurrenz schläft nicht. In China wächst die Forschungsfinanzierung mit enormer Geschwindigkeit. Diese Situation des internationalen Wettbewerbs erinnert an das, was die Rote Königin von Alice im Wunderland sagte: Man muss immer schneller laufen, um an Ort und Stelle zu bleiben. Und wenn man besser werden will, muss man noch schneller laufen...

Was sind andere Bereiche, in denen Sie sich engagieren werden?

Die Autonomie von Forschungsstrukturen zu gewährleisten ist ein wesentlicher Aspekt für ihren Erfolg. Jede Verantwortungsebene darf nur die Kompetenzen behalten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Alles andere muss nach unten delegiert werden: von der Politik an die Universität, von der Leitung an die Fakultäten und von den Departementen an die Professorinnen bis zu den Doktoranden. Ein bisschen wie unser föderalistisches System, das in auf verschiedene Ebenen Verantwortung delegiert.

«Ich möchte so viele Synergien wie möglich erzeugen und Mauern niederreissen, die uns voneinander trennen.»      Michael Hengartner

Was ist Ihre Vision für den ETH-Rat?

Ich möchte so viele Synergien wie möglich erzeugen und Mauern niederreissen, die uns voneinander trennen. Ich sehe viel Raum für eine weitere Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen des ETH-Bereichs. Ein gutes Beispiel ist der neue Master-Studiengang Cyber Security, der von der EPFL und der ETH Zürich eingeführt wurde. Sie bündeln ihr Fachwissen und bieten so eine einzigartige und sehr attraktive Ausbildung.

Ich möchte auch die Zusammenarbeit mit externen Partnern stärken. Mit den Universitäten natürlich – PSI-Direktor Christian Rüegg etwa ist Professor an der Universität Genf –, aber auch mit den Fachhochschulen. Unser Auftrag ist national, und wir brauchen Expertise von ausserhalb des ETH-Bereichs. Wir sind sehr stark in technologischen Fragen, aber diese reichen nicht aus. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften wird bei der Bewältigung der grossen gesellschaftlichen Herausforderungen von entscheidender Bedeutung sein. Konkrete Ergebnisse, um diese Herausforderungen wirklich zu begreifen, fehlen noch immer und sind nicht ausreichend koordiniert. Es gibt viele lokale Lösungen – eine Folge des Föderalismus – aber es wird notwendig sein, dieses Wissen zu konsolidieren, sodass es für das ganze Land von Nutzen ist.

Die Kunst besteht darin, die richtige Balance zu finden: Optimierung und Vermeidung von Doppelspurigkeiten, insbesondere bei der Infrastruktur, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines gesunden Wettbewerbs und der Möglichkeit, verschiedene Ansätze auszuprobieren. Es ist eine grosse Herausforderung, sich vor allem in Projekten zu engagieren, in denen wir wirklich etwas bewirken und die ohne uns nicht möglich wären.

Welches Vermächtnis möchten Sie hinterlassen, wenn Sie den ETH-Rat verlassen?

Ein Vermächtnis? Darüber reden wir nicht jetzt schon! Ich bin erst seit ein paar Monaten hier.