«Forschung mit Embryomodellen braucht rechtliche Klarheit»
Drei Forschungsteams aus Grossbritannien, den USA und Israel haben es unabhängig voneinander geschafft, aus menschlichen Stammzellen Zellaggregate zu entwickeln, die dem frühen menschlichen Embryo ähneln, wie im Juni bekannt wurde.
Diese Zellaggregate werden Embryomodelle genannt. Neu an den Modellen ist, dass in ihnen die menschliche Embryonalentwicklung erstmals mit anderen Zellen als Keimzellen (Eizellen und Spermien) eingeleitet werden kann. Die Embryomodelle werden aus Stammzellen einer einzigen Person erzeugt. Im Raum steht nun die Frage, ob die Forschung solche Embryomodelle nutzen soll und darf, denn die Forschung an echten menschlichen Embryonen ist ethisch umstritten und in vielen Ländern stark eingeschränkt. Die Forschung mit den Embryomodellen hingegen ist in vielen Ländern noch nicht gesetzlich geregelt.
Der Ethiker Alessandro Blasimme von der ETH Zürich befasst sich seit Jahren mit ethischen Fragen der Biomedizin. In einer jüngst im Fachmagazin Cell Stem Cell veröffentlichten Studie beschäftigte er sich spezifisch mit den neuen Embryomodellen aus menschlichen Stammzellen.
ETH-News: Warum sind diese Embryomodelle für die Wissenschaft bedeutend?
Alessandro Blasimme: Über die ersten Phasen der menschlichen Embryonalentwicklung wissen wir immer noch sehr wenig. Weil die Forschung in vielen Ländern stark reglementiert ist, sind solche Embryomodelle eine Alternative, um die Embryonalentwicklung und relevante Probleme, die in der frühen Schwangerschaft auftreten können, zu untersuchen: Wie nistet sich ein Embryo in die Gebärmutter ein und warum kommt es in dieser Schwangerschaftsphase relativ häufig zu Spontanaborten? Letztlich könnte solche Forschung auch zu Therapien für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch führen. Die neuen, sehr genauen Modelle ermöglichen es, den Embryo in einer Weise zu studieren, die vorher nicht möglich war.
In einigen Ländern dürfen Forschende mit echten menschlichen Embryonen arbeiten, bis diese 14 Tage alt sind. Auch die neuartigen Embryomodelle wurden bis jetzt nicht länger als 14 Tage in Kultur gehalten. Was ist der Vorteil dieser Modelle, wenn man auch an echten Embryonen forschen kann?
Die Forschenden, die menschliche Embryomodelle entwickelten, hielten diese bis zu acht Tage in Kultur. Wahrscheinlich war es aus experimentellen Gründen nicht länger möglich. Ich gehe jedoch davon aus, dass dies bald möglich werden wird. Zwei der an den Experimenten beteiligten Forschergruppen haben kürzlich bei Embryomodellen von Mäusen die Entwicklung eines schlagenden Herzens und eine beginnende Hirnentwicklung beobachtet. Ein Vorteil der Modelle ist ausserdem: Um natürliche menschliche Embryonen zu erzeugen, werden Eizellen von Frauen verwendet. Für die Embryomodelle hingegen sind keine menschlichen Eizellen erforderlich.
Ist es derzeit in der Schweiz rechtlich erlaubt, mit menschlichen Embryomodellen zu arbeiten, allenfalls auch länger als 14 Tage?
Die Forschung mit Embryonen ist in der Schweiz nicht verboten, aber streng reglementiert, wobei die Frist in der Schweiz nicht 14, sondern 7 Tage beträgt. Die rechtliche Definition dessen, was ein Embryo ist, ist hier allerdings sehr eng gefasst. Die neuen Embryomodelle dürften nicht darunterfallen. Das heisst, die Arbeit mit ihnen ist in der Schweiz derzeit weitgehend ungeregelt. Es gibt unterschiedliche Methoden, um solche Embryomodelle zu erzeugen. Zum Teil werden die menschlichen Stammzellen dazu genetisch verändert. Das wäre in der Schweiz verboten. Es gibt aber auch Methoden, die ohne Gentechnik auskommen.
Und in den anderen europäischen Ländern?
Die rechtliche Lage und insbesondere auch, was als Embryo definiert wird, unterscheiden sich von Land zu Land. Die Gesetzgebungen in Österreich und Belgien beispielsweise definieren Embryonen so, dass auch die neuen Modelle darunterfallen dürften. Das heisst, die Regulierungen zur Forschung mit menschlichen Embryonen dürften dort so ausgelegt werden, dass sie auch für die neuen Embryonenmodelle gelten. In den meisten Ländern bestehen allerdings bedeutende Gesetzeslücken.
Was heisst das für die Wissenschaft?
Ungewisse Rahmenbedingungen bringen keine gute Wissenschaft hervor. Es würde der öffentlich finanzierten Wissenschaft schaden, wenn Forschende Gesetzeslücken ausnützten. Erst recht gilt das bei einem derart kontroversen Thema. Man darf nicht vergessen, dass die Gesellschaft seit Jahrzehnten über den moralischen und rechtlichen Status von Embryonen debattiert. Rechtliche Klarheit ist für die Forschung wichtig. Jedes Land muss sich nun die Frage stellen, ob es die Forschung mit solchen Embryomodellen erlauben möchte. Die nationalen Parlamente müssen darüber beraten und dies dann gesetzlich regeln.
Was kann Ihr Feld, die Bioethik, dazu beitragen?
Als Gesellschaft müssen wir praktische Fragen beantworten: Sollen Embryomodelle Embryos rechtlich gleichgestellt werden oder nicht? Und soll die Forschung an diesen Modellen erlaubt werden und innerhalb welcher Grenzen? Wir haben unsere Studie auch deshalb veröffentlicht, weil wir jetzt diese Diskussion anregen möchten. Die Aufgabe von uns Ethikern ist es, die Gründe für und gegen die Verwendung solcher Embryomodelle zu untersuchen und Regeln vorzuschlagen, die kohärent sind und von der Gesellschaft akzeptiert werden, auch wenn es keinen noch endgültigen Konsens zu diesem Thema gibt. Gesetzeslücken schaden der Wissenschaft. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir wissenschaftliche Forschung zulassen sollten, aber mit Regeln, die öffentlich diskutiert wurden und akzeptiert werden können.
Was ist Ihre Haltung? Sollen die Modelle echten Embryonen gleichgestellt werden?
Die Modelle sind Embryonen tatsächlich sehr ähnlich. Und sowohl in der Ethik als auch in der Rechtsprechung legt die Logik nahe, Gleiches gleich zu behandeln. Das bedeutet nicht zwingend, dass wir die bestehenden Regeln einfach so auf die Embryomodelle ausweiten sollten. Aber die jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen sind eine gute Gelegenheit, auch über die bestehenden Regeln nachzudenken und rechtliche Klarheit zu schaffen.